«Das libanesische Volk hat nicht aufgegeben»

Politik

Pfarrer Paul Haidostian ist an der Uni Beirut eine führende Stimme zu christlichen Gemeinschaften im Nahen Osten. Er appelliert an die Kirche, in Konflikten Haltung zu zeigen. 

Herr Haidostian, können Sie unseren Leserinnen und Lesern beschreiben, wie die Menschen in Beirut und im Libanon in diesen schwierigen Zeiten leben und sich fühlen?

Paul Haidostian: Es herrscht überwiegend eine Atmosphäre der Angst. In den letzten anderthalb Monaten befindet sich der Libanon in einem Krieg, der sich nicht auf die Grenze beschränkt. Es werden neue Technologien eingesetzt, die das ganze Land betreffen. Im Alltag im Libanon hören die Menschen Bomben oder israelische Drohnen. So werden sie ständig daran erinnert, dass sie sich im Kriegszustand befinden. Noch einschneidender und trauriger sind die Vertreibungsbewegungen innerhalb des Landes. Wir haben 1,2 Millionen Menschen, die von einem Teil des Libanon in einen anderen Teil des Libanon vertrieben worden sind. Das ist eine große Herausforderung. Für diejenigen, die kommen, weil sie ihr Zuhause verloren haben, und für diejenigen, welche die Geflüchteten in den meisten Fällen mit Gastfreundschaft empfangen.

Wie leben Menschen in dieser ständigen Angst?

Das ist eine interessante Frage. Als der Krieg begann, hörte das «normale» Leben auf. Doch nach ein paar Wochen beschlossen die Libanesen, ihr Leben weiterzuführen. Zunächst begannen beispielsweise die Schulen mit dem Online-Unterricht. Letzte Woche sagten sie dann: «Selbst wenn es Krieg gibt, werden wir unsere Kinder zurück in die Klassenräume bringen, wo es relativ sicher ist.» Die Menschen wollen Normalität. Ja, es gibt einen Krieg. Aber die Menschen versuchen, ihr Leben so normal wie möglich zu leben.

Als Christ kann ich mit Zuversicht sagen: Gott ist auf der Seite der Schwachen.
Paul Haidostian

Aber wie schaffen sie das?

Sie sind widerstandsfähig. Der Libanon befindet sich seit 2019 in einer schwierigen Situation: Die libanesische Wirtschaft und das Bankensystem sind zusammengebrochen. Es folgte die Corona-Pandemie, die verheerende Explosion im Hafen von Beirut im Jahr 2020. Das Land befand sich bereits vor dem Krieg in einem sehr schwachen Zustand. Wirtschaftlich und politisch. Seit zweieinhalb Jahren wurde kein neuer Präsident der Republik gewählt. Und die Leute müssen einfach irgendwie klarkommen. Ich glaube nicht, dass das libanesische Volk aufgegeben hat. Nicht einmal jetzt.

In einem kürzlich veröffentlichten Text sprachen Sie von einem Gefühl der Machtlosigkeit, das viele Menschen lähmt. Sie haben aber auch gesagt, dass man als Christ nie wirklich machtlos sei. Warum ist das so?

Unser Glaube basiert auf dem Kreuz. Ich sehe das Kreuz als Wertesystem. Das Kreuz ist ein Preis, der bezahlt werden musste, aber es ist nicht das Ende der Geschichte. Deshalb sprechen wir ja von der Auferstehung. Und als Christ kann ich mit Zuversicht sagen: Gott ist auf der Seite der Schwachen, nicht auf der Seite der Starken und Reichen. Ich sage das nicht, weil ich Theologe und Pfarrer bin. Viele gläubige Menschen werden so etwas sagen, wenn man sie fragt.

Zu Gast an der Synode der EKS

Paul Haidostian, Präsident der Haigazian University in Beirut, Libanon, und eine führende Stimme der armenischen und nahöstlichen christlichen Gemeinschaften, war Gast an der Herbstsynode der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS) in Bern. In seiner Rede vor der Synode machte Haidostian deutlich, dass die christliche Integrität und Zeugenschaft von entscheidender Bedeutung sind, insbesondere im Hinblick auf die aktuelle Lage in Nagorno-Karabakh und die Herausforderungen für die christlichen Gemeinschaften im Nahen Osten.

Auch im Interview mit «reformiert.» sprach Haidostian über das Leiden und die Unsicherheiten, denen die Christen im Nahen Osten und insbesondere in Armenien ausgesetzt sind. Das Interview wurde auf Englisch geführt und übersetzt.

Spielt es Ihrer Meinung nach eine Rolle, ob gläubige Menschen Christen, Juden oder Muslime sind?

Jede Religion schöpft auf ihre Weise Kraft und Hoffnung aus dem Glauben und aus Gott. Sogar jede Art von Spiritualität enthält eine Kraft. Aber das Christentum basiert stark auf dem menschlichen Jesus, dem leidenden Jesus, dem verratenen Jesus. Auch auf dem Göttlichen, der wieder auferstanden ist. Diese Botschaft ist sehr stark.

Es ist nicht die Religion, die Probleme verursacht, sondern die Art und Weise, wie Religion verwendet wird.
Paul Haidostian

Der Krieg zwischen Israel und der Hamas ist ein Konflikt zwischen Juden und Muslimen. Welche Rolle spielen Christen dabei?

Für mich ist dieser Konflikt und nun der Krieg nicht in erster Linie religiöser Natur. Religion dient nur als Vorwand und zur Durchsetzung politischer Ziele. Es geht nicht um Judentum versus Islam. Es geht um Regierung gegen Regierung oder andere Mächte. Es geht um Machtkämpfe und den Kampf um Territorien. Deshalb muss man aus meiner Sicht auf den Staat Israel schauen und nicht auf das Judentum. Es ist nicht die Religion, die Probleme verursacht, sondern die Art und Weise, wie Religion verwendet wird, insbesondere in der Politik.

Können Christen eine Vermittlerrolle spielen? Sollten sie es versuchen?

Für mich als Christ im Nahen Osten ist es wichtig, die Menschen immer wieder daran zu erinnern, dass die Konflikte politisch, ideologisch und manchmal auch wirtschaftlich motiviert sind. Dass es um Macht geht und nicht um Religion. In vielen Ländern des Nahen Ostens hatten Menschen unterschiedlicher Religionen gemeinsame Geschichten, gemeinsame Erfahrungen, gemeinsame Leben und eine gemeinsame Kultur. Es gab keine Konflikte, bis die Regierungen anfingen, Machtspiele zu spielen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, wie das Ausland auf solche Konflikte reagiert und sich dadurch einmischt. Welche Interessen ausländische Mächte verfolgen. Wie sie diese Konflikte befeuern.

Wie aktiv sollte sich die Kirche in solche Diskussionen einbringen?

Die christliche Kirche hat wichtige Botschaften. Eine davon ist, dass wir immer diejenigen unterstützen sollten, die leiden. Egal wer leidet. Ich spreche nicht von Kämpfern, von Soldaten. Ich spreche von Zivilisten. Ich spreche von Menschen, die solchen Kriegen ausgeliefert sind. Wo Menschen leiden, muss die Kirche ihnen helfen.

Neben dem Krieg im Nahen Osten und dem Krieg gegen die Ukraine geraten andere Konflikte weltweit in Vergessenheit. Einer davon ist die Vertreibung von über 100'000 armenischen Christen aus der Region Berg-Karabach durch Aserbaidschan. Was löst das bei Ihnen aus?

Einerseits ist mir natürlich bewusst, dass die Medien einige Probleme und Konflikte hervorheben und anderen weniger Aufmerksamkeit schenken. Doch wenn es um den Konflikt in Berg-Karabach geht, ist Armenien isolierter denn je. Auch in der westlichen Welt. Als kleines Land bräuchte Armenien hier politische und militärische Unterstützung. Als Berg-Karabach blockiert wurde, sagte ein Großteil der westlichen Welt nicht: «Diese Blockade muss enden», sondern: «Wir sollten Lebensmittel und Medikamente schicken.» Das wird getan, um das schlechte Gewissen zu beruhigen. Die Menschen im blockierten Gebiet sterben dann einfach langsamer. Es gibt auch andere vergessene Konflikte dieser Art, Südsudan zum Beispiel.

Ich glaube, dass es im 21. Jahrhundert weltweit eine Sinnkrise gibt.
Paul Haidostian

Wie sehen Sie die Zukunft Armeniens?

Am Ende wird Armenien den Preis dafür zahlen, dass es von mächtigen Ländern umgeben ist. Und dass weiter entfernte Mächte beteiligt sind. Armenien ist ein kleines Land mit begrenzten Ressourcen, aber auch einigen Entwicklungsbereichen. Die wichtigste Ressource Armeniens sind seine Menschen, sein Charakter und seine Kultur. Diese ist nicht zuletzt ein christliches Erbe.

Die Zahl der Christen im Nahen Osten ist rückläufig. Etwas, das auch die europäischen Kirchen erleben. Macht Ihnen das Sorgen?

Das ist natürlich nicht angenehm. Das sage ich immer wieder in meinen Vorträgen. Aber: Die Zahl allein ist nicht entscheidend. Der Niedergang im Nahen Osten hat nicht den gleichen Grund wie der Niedergang in Europa. Ganz einfach: Viele Christen im Nahen Osten können leider nicht in ihrer Heimat bleiben. Es ist ein Exodus. Weil sie sich gefährdet fühlen. Es handelt sich hier nicht um Säkularisierung oder religiöse Apathie wie in Europa. Übrigens glaube ich, dass es im 21. Jahrhundert weltweit eine Sinnkrise gibt.

Was gibt ihrem Leben Sinn?

(lacht) Ich könnte Ihnen jetzt einen dreistündigen theologischen Vortrag dazu halten. Aber ich werde die Frage auf persönlicher Ebene beantworten. Eine meiner Töchter hat mich kürzlich gebeten, Kurzgeschichten für eine Webseite zu schreiben. Sie fragte mich: «Worauf in deinem Leben bist du stolz? Was gibt deinem Leben eine Bedeutung?» Das ist es: Es ist mein Erbe. Es ist so reich: als Christ, als Armenier. Das Erbe meiner Familie, die so viel durchgemacht hat, die nie aufgegeben und sich nie vom Glauben abgewendet hat.