Vor zehn Jahren erreichte die sogenannte Flüchtlingskrise Europa. Was spielte die Schweiz für eine Rolle in dem Szenario?
Gianni D’Amato: Die Schweiz war keine der Hauptdestinationen. Die meisten Menschen suchten sich damals Deutschland und Schweden als Zielländer aus. Es gab zwar einen Anstieg der Anzahl Menschen, die in die Schweiz kamen, aber der war verhältnismässig klein.
Wer migriert denn vor allem in die Schweiz?
Menschen, die in der Schweiz einen Job suchen. Zwei Drittel der Personen kommen aus der Europäischen Union. Darüber hinaus ist der Familiennachzug ein Faktor und Studierende, die für das Land wichtig sind. Nur der geringste Teil der Migrierenden sind Asylbewerbende.
Braucht die Schweiz denn Menschen, die hierher migrieren?
Wenn wir uns die Bevölkerungspyramide ansehen, dann wird die Landschaft in der Schweiz und in Europa ab 2050 anders aussehen. Die Bevölkerung wird stark altern. Ohne Migration würde die Schweiz schrumpfen. Das hätte Konsequenzen für den Arbeitsmarkt und die Sozialsysteme. Weil ganz Europa mit den gleichen Problemen konfrontiert ist, wird es zunehmend einen Wettbewerb um Arbeitskräfte geben.
Wie verhält es sich mit der Migration aus Fluchtgründen?
Die Zahlen nehmen in Europa drastisch ab. Die Schweiz erwartete dieses Jahr mit 24 000 Menschen eine der tiefsten Asylmigrationen in den letzten Jahren. Allerdings scheinen die Zahlen seit Juni wieder zu steigen. Der europäische Migrationspakt und die aussenpolitischen Abkommen erschweren den Weg über die Fluchtrouten. Wie weit bei diesen Migrationsabkommen die Menschenrechte berücksichtigt werden, ist fraglich.
Apropos Menschenrechte. Die zivilen Seenotretter haben es sich zur Aufgabe gemacht, Menschen auf der Flucht vor dem Ertrinken zu retten. Was halten Sie davon?
Auf See gilt, Menschen in Seenot zu retten und in einen sicheren Hafen zu bringen. Europäisches Recht verlangt zudem, dass diese Menschen Zugang zu einem Asylverfahren erhalten. Da es keine politisch koordinierte Seenotrettung gibt, übernehmen zivilgesellschaftliche Akteure diesen Job. Die Vorstösse von europäischen Staaten, das Problem der ankommenden Menschen auszulagern, etwa in Zentren in Albanien oder Ruanda, wurden zuletzt vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte abgelehnt. Offen bleibt aber, wie lange die Gerichte sich in der Frage durchsetzen können.
Wie meinen Sie das?
Wir leben in einer Welt, in der die Wahrung der Menschenrechte mehr und mehr angegriffen wird, seitens der Rechtspopulisten beispielsweise. Diese politischen Kräfte setzen die Regierungen unter Druck.
Sind die Ängste, die Menschen vor Überfremdung haben, berechtigt?
Die Leute haben Angst vor dem Verlust des Vertrauten. Radikale Rechtspopulisten argumentieren, die Migrierenden nähmen ihnen die Arbeit oder Wohnungen weg. Man unterscheidet aber zwischen Substitution und Komplementarität auf dem Arbeitsmarkt. Substitution würde bedeuten: Jene Personen, die kommen, ersetzen Schweizerinnen und Schweizer in den Jobs. Das ist höchstens im Niedriglohnsektor der Fall. Meistens ist es eben komplementär: Die Ausländer füllen die Lücken auf dem schweizerischen Arbeitsmarkt.