Gesellschaft 29. Mai 2024, von Christian Kaiser

Friedlich unter einem Dach, aber mit separaten Eingängen

Interreligiöser Dialog

Das Projekt Doppeltür verweist auf das friedliche Miteinander von Christen und Juden im Aargau. Der Grundstein für ein Begegnungszentrum, das 2026 seine Türen öffnet, ist gelegt. 

In Lengnau steht nicht nur die Kirche noch im Dorf, sondern auch die Synagoge. Prunkvoll flankiert ihre verzierte Fassade den Dorfplatz, die reformierte Kirche steht etwas abseits auf einem Hügel.

Das Ortsmuseum an dessen Fuss verschweigt weitgehend eine historische Besonderheit, derentwegen in den letzten Jahren über 50 000 Interessierte aus dem In- und Ausland ins Surbtal gereist sind: Die Geschichte der Nachbarsdörfer Lengnau und Endingen ist eng mit jener des Judentums verknüpft.

Anders, separiert und doch zusammen

Die baulichen Zeugen dieser wechselvollen Geschichte sind in den beiden Dörfern so anschaulich vertreten und gut erhalten wie nirgends sonst in der Schweiz. Das zeigt sich bereits auf einer kleinen Runde um den Lengnauer Dorfplatz. 

Links an die Synagoge anschliessend stehen gleich zwei sogenannte Doppeltürhäuser. In diesen wohnten – und wohnen zum Teil bis heute – jüdische und christliche Familien im selben Zweifamilienhaus, mit je eigenen Eingängen. Zwei Türen für zwei Sippen und zwei Religionen, beide getrennt für sich und doch zusammen – das ist fast schon eine Bau gewordene Metapher. 

Die Treppenhäuser sind getrennt, stellenweise markiert sogar eine Trennlinie auf dem Dach die beiden Hausteile. Denn: Sich im Innern begegnen und in die Augen schauen wollte man nicht, und eigentlich war es den Angehörigen beider Religionsgemeinschaften lange sogar verboten im selben Haus  zu wohnen. 1678 hatte der Landvogt den Juden in der Grafschaft Baden zwar die Niederlassungsfreiheit zugesichert, ihnen aber untersagt mit Christen unter dem gleichen Dach zu wohnen.

In Lengnau und Endingen wurden die Juden nicht verjagt, gettoisiert oder umgebracht, sondern ins Gemeindeleben integriert.
Roy Oppenheim (84), Publizist und Initiant des jüdischen Kulturwegs und des neuen Begegnungszentrums Doppeltür in Lengnau

Bauliche Zeitzeugen als Anschauungsunterricht

In den beiden im Volksmund lange als «Judendörfer» bezeichneten Gemeinden im Oberaargau tat man es trotzdem, aber eben mit getrennten Eingängen. Und das ist europaweit ein absolutes Unikum. In Lengnau und Endingen gibt es insgesamt noch 26 solcher Doppeltürhäuser.

Aber auch andere Zeitzeugen stehen noch: jüdische Schulhäuser, ein Gemeindehaus und ein israelitisches Altersheim, das noch in Betrieb ist, ein jüdischer Friedhof und in den beiden Dörfern je eine Mikwe, ein Tauchbad für rituelle Waschungen. 

Der jüdische Kulturweg mit seinen 15 Stationen veranschaulicht es eindrücklich: Jüdinnen und Juden waren hier ins Dorfleben integriert. Die ersten waren bereits im Laufe des Dreissigjährigen Kriegs (1618–1648) gekommen, viele waren aus dem Elsass vertrieben worden. 

Weltberühmte Auswanderer

Ab 1776 durften sich Juden nach einem Tagsatzungsbeschluss sogar nur noch in Endingen und Lengnau ansiedeln. Um 1850 stellten sie in Lengnau 30 Prozent und in Endingen 50 Prozent der Bevölkerung . Erst ab 1866 fielen die Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit weg und die Jüdinnen und Juden konnten aus dem Surbtal in die Städte ziehen oder ins Ausland auswandern.

Und aus dieser jüdischen Gemeinschaft sind erstaunlich viele weltberühmte Persönlichkeiten hervorgegaben: die Kunstmäzene Solomon und Peggy Guggenheim etwa oder der Regisseur und Oscar-Preisträger William Wyler, der das Film-Epos Ben Hur erschuf und dafür drei Oscars erhielt. Sein Namensvetter Silvain S. Wyler wanderte 1920 von Endingen nach Chicago aus und begründete dort mit Bouillonwürfeln und Fertigsuppen ein Lebensmittel-Imperium.

«Das Surbtal zeigt ein faszinierendes Stück Religionsgeschichte: Anschauungsunterricht in Sachen Miteinander statt Gegeneinander», sagt Roy Oppenheim. «Hier wurden die Juden nicht verjagt, gettoisiert oder umgebracht, sondern ins Gemeindeleben integriert.»

Die Frage, wie das Miteinander gelebt werden kann statt das Gegeneinander, ist hochaktuell und der Dialog darüber sehr wertvoll.
Roy Oppenheim (85), Historiker mit jüdisch christlichen Wurzeln

Ein neues Zentrum für den jüdisch-christlichen Dialog

Der Historiker mit jüdisch-christlichen Wurzeln erforscht seit Jahrzehnten das israelitische Erbe in den beiden Dörfern. Bereits der 2009 eröffnete Stationenweg geht auf seine Initiative zurück. Und nun erfüllt sich auch eine lang gehegte Vision: Das grosse Doppeltürhaus am Lengnauer Dorfplatz wird bis 2026 zu einem Begegnungszentrum des interreligiösen Dialogs ausgebaut.

Die Baubewilligung wurde inzwischen erteilt, die Finanzierung von rund 12 Millionen Franken ist weitgehend gesichert. Entstehen soll ein Verständigungsprojekt, das mit modernsten Vermittlungsmethoden die Beziehung zwischen den beiden Religionen hinterfragt. Geplant ist keine Schönfärberei sondern die Darstellung historischer Tatsachen; auch der Antisemitismus, den es auch im Surbtal immer wieder gab und noch gibt, und seine Ursachen sollen thematisiert werden. 

Im Zentrum stehen soll aber das funktionierende Zusammenleben über die Jahrhunderte: «Die Frage, wie das Miteinander gelebt werden kann statt das Gegeneinander, ist hochaktuell», sagt Oppenheim, «und der Dialog darüber ist wertvoll.» Es gelte, sich auf das Verbindende zwischen Religionen zu besinnen: Jesus war ein Jude und letztlich sind das Alte und das Neue Testament auch einfach zwei Türen zum selben Gott.