Porträt 30. Mai 2018, von Rita Gianelli

Der beste Entscheid ihres Lebens

Gesellschaft

Die Arbeit mit dem Tod hat Corina Dietschs Blick auf das Leben verändert. Ausgleich findet die Tatortreinigerin bei ihrem Pferd.

Geruna bläht die Nüstern. Auf der Pferdekoppel in Alvaschein im Albulatal fühlt sich die Haflingerstute inmitten von Araber-, Freiberger- und Appaloosa-Pferden wohl. «Geruna war der beste Entscheid meines Lebens», sagt ihre Besitzerin Corina Dietsch und legt ihrem Pferd das Halfter an. Gemächlich bahnen sie sich einen Weg durch die Herde. Auf dem Vorplatz kaut das Pferd Rüben, während Dietsch Bürste, Kamm und Striegel holt. Fast zeitgleich mit dem Pferdekauf gründete Dietsch vor zwei Jahren ihre eigene Firma: «Tatortreinigung Dietsch». Keine dreissig Jahre alt war die ausgebildete Polizistin, als ihr während eines Einsatzes auffiel, dass das Bestattungsinstitut den Tatort reinigte, obwohl dies nicht seine Aufgabe war. Sie erhielt damals die Begründung: «Sonst macht es niemand.»

Der Tod hinterlässt Chaos

Tatsächlich gibt es in der Schweiz nur wenige Tatortreiniger, in Graubünden ist sie die einzige. «Plötzlich ging alles ganz schnell», sagt Corina Dietsch, die sich bei der Polizei schon länger zu wenig gefordert fühlte. Nach einem «Crash-Kurs» in einem Betrieb in Basel kündigte sie und machte sich selbstständig. Regionalzeitungen berichteten ausführlich über die erste Tatortreinigerin im Kanton, sie war auf Podien und im Radio. Dietsch spricht offen von ihrer Arbeit, bei der man sich die Frau mit den kornblumenblauen Augen und den gepflegten Nägeln gar nicht so recht vorstellen mag. Gerufen wird Dietsch bei Unfällen, Gewaltverbrechen, Selbstmord oder – ihr häufigster Fall –, wenn Menschen gestorben sind, ohne dass es jemand bemerkt hat.

Zur Ausstattung einer Tatortreinigerin gehören Gasmaske, Desinfektionsmittel, Handschuhe, Kehrichtsäcke. Dietsch trifft ein, wenn die Leiche bereits fortgebracht ist. Sie entfernt Blutlachen, entsorgt «organisches Material» wie Haare, Hautreste, manchmal auch Organteile und vernichtet Ungeziefer, «das sich erstaunlich schnell verbreitet». Manchmal sitzt der Todesgeruch so stark in den Wänden, Möbeln und Kleidern, dass sie ganze Wohnungen räumen muss, dann mit Hilfskräften. «Doch manchmal zeigt der Tod unerwartet ein anderes Gesicht», sagt Corina Dietsch, während sie Gerunas Flanke bürstet. Wenn in einer verwahrlosten Wohnung im Chaos plötzlich Ordnung auftaucht: sauber abgelegte Unterlagen in einer Schublade.

Ohne Angst vor dem Tod

«Die meisten Menschen sind überfordert, wenn sie mit dem Tod konfrontiert sind», sagt Dietsch. Da sei es von Vorteil, dass sie bei der Po­lizei war. «Die Leute vertrauen mir und überlassen mir ohne Zögern die Wohnungsschlüssel.» Immer erfährt sie grosse Dankbarkeit. «Jemand hat mir sogar mal einen Scarnuz Grischun geschenkt.» Einen Korb mit Bündner Spezialitäten. Corina Dietsch macht ihre Arbeit gern. Obwohl sie damit nicht genug verdient und darum nebenbei als Hauswartin jobbt. Materielles sage ihr nicht mehr viel. Trotz der Heftigkeit und Unvorhersehbarkeit, durch die der Tod bisweilen in Erscheinung tritt, hat ihr ihre Arbeit die Angst vor dem Sterben genommen. Eine neue Gewissheit sei an deren Stelle getreten. «Der Zeitpunkt, wann ein Leben endet, ist jedem vorbestimmt. Wir müssen nicht hadern.» Corina Dietsch gibt Geruna einen Klaps, worauf das Haflingerpferd zufrieden zu seiner Herde zurücktrottet.

Corina Dietsch, 31

Nach der Sekundarschule in Zizers lernte Corina Dietsch Verkäuferin in einem Grosshandelsunternehmen. Sie jobbte im Gastgewerbe, im Sicherheitsdienst und als Gärtnerin, bevor sie die Polizeischule Amriswil besuchte. Ihre Firma gründete sie 2016. Sie lebt in Tiefencastel im Albulatal.