Ruedi Keller lebt in ständiger Bereitschaft. Nicht beruflich. «Es ist immer noch ein Hobby», sagt er. Wobei «Hobby» wohl der falsche Begriff ist. Wer mit ihm spricht, merkt schnell: Es ist eine Berufung, ausgeübt mit Leidenschaft und professionellem Anspruch. Vor seinem Haus in Embrach ZH steht ein Ambulanzfahrzeug, ein umgebauter Geländewagen mit den typischen orangen Leuchtstreifen. Dahinter steht ein grosser Anhänger, der sofort an Tiertransporte denken lässt.
Zusammen mit etwa 40 Kolleginnen und Kollegen ist Ruedi Keller ehrenamtlicher Grosstierretter. Sie sind an sechs Stützpunkten in der Schweiz stationiert und stehen fast jeden Tag im Einsatz. Die Grosstier-Rettung Schweiz/Liechtenstein ist Kellers Werk. Er hat sie 1997 gegründet und präsidiert sie auch.
Eine Rettung hat ihren Preis
«Tiere geben den Menschen viel als Nutztiere oder Heimtiere, sie sind einfühlsam, unterhaltsam und seelenvoll», sagt Keller. Entsprechend solle der Mensch helfen, wenn eines dieser Mitgeschöpfe in Not sei. Eine Rettungsaktion kostet zwischen 1000 und 2000 Franken, in Ausnahmefällen bis zu 5000 Franken. «In Westeuropa sind wir in einer privilegierten Situation, wir können und sollen uns die Rettung leisten», sagt der gelernte Bootsbauer.
Schon als Bub half Keller regelmässig einem Onkel auf dem Bauernhof. Er ist also, wie er selber sagt, «mit einem Bein in der Landwirtschaft aufgewachsen». Ihn hätten stets die grossen Tiere besonders fasziniert, «ihre Kraft und ihr sanftes Wesen». Später, als Pferdehalter, wurde Keller bewusst, dass es für Grosstiere keinen Rettungsdienst gab. Brach sich ein Pferd ein Bein oder stürzte eine Kuh in die Jauchegrube, rückte in der Regel die Feuerwehr aus und versuchte mit improvisierten Mitteln, das Tier zu bergen. Es danach so zu versorgen, dass es den Transport in die Klinik gut überstand, war wieder eine Angelegenheit für sich.
Ruedi Keller und einige Gleichgesinnte beschlossen, Abhilfe zu schaffen, und gründeten deshalb die Grosstierrettung. Der Dienst funktioniert gleich wie die Ambulanz für Menschen. Das Personal verfügt über eine technische Ausbildung und tiermedizinisches Wissen. Die Fachausbildung erhalten die Retter am Tierspital Zürich, das seit Beginn auch die Standards für die Schulungen setzt.
Abenteuer am Felsen
Ruedi Keller wirkt mit seiner präzisen Sprechweise, den kurzen hellen Haaren, dem Shirt mit Ambulanzlogo und der Cargohose fast wie der Kommandant einer Spezialtruppe in einem Actionfilm, erfahren, technisch versiert, zupackend und fit. Diese Eigenschaften sind bei den teilweise spektakulären Einsätzen denn auch gefragt: Die Leute von der Tierrettung, die meist zu zweit ausrücken, schrecken vor nichts zurück, weder vor unwegsamem Gelände noch Helikopterflügen, auch nicht vor dem Abseilen an der steilen Felswand oder längeren Fahrten ins benachbarte Ausland.
Den Rettungsdienst, der eng mit den lokalen Tierärzten zusammenarbeitet, bieten Bauern und Private auf, aber auch Zoos. So bekommen es Ruedi Keller und seine Leute auch einmal mit einem Elefanten oder einem Nashorn zu tun. Es mache ihm nichts aus, rund um die Uhr und übers ganze Jahr einsatzbereit zu sein, sagt er. Denn auf grosse Ferienreisen könne er eigentlich ganz gut verzichten.