Porträt 10. Januar 2023, von Nadja Ehrbar

Sie lehrt Hunde, für Blinde zu sehen

Unterstützung

Tanja Scheiwiller ist Blindenführhundeinstruktorin. Dass sie mit ihren Hunden ein sinnvolles Ziel erreichen kann, motiviert sie.

Tanja Scheiwiller öffnet die Hintertür ihres Autos. Aus der Hundebox, die sich im Kofferraum befindet, ertönt ein Winseln. Es ist Emil, ein blonder Labrador-Rüde. Als auch die Tür der Box aufgeht, steht der Hund mit einem Satz auf der Strasse. «Er freut sich auf die Arbeit», sagt die Blindenführhundeinstruktorin, «er ist sehr motiviert.» 

Seit neun Monaten trainiert nun  Scheiwiller den zweieinhalbjährigen Labrador schon. Bald ist er bereit für die Prüfung, die ein Experte des Bundesamts für Sozialversicherungen abnehmen wird. Erst nachdem er diese bestanden hat, darf er einer blinden Person zugeteilt werden, damit er sie rund acht Jahre lang im Alltag unterstützen kann. 

Die 42-Jährige hält Emil auf dem Trottoir das Führgeschirr hin. Der Hund steckt seinen Kopf durch die dafür vorgesehene Öffnung. Dann schliesst sie den Bauchgurt, nimmt den Blindenstock in ihre Hand. Nun kann es losgehen. 

Sicher an Baustellen vorbei

Zwar ist die Instruktorin selbst nicht blind, doch den Stock hat sie seit Beginn der Ausbildung dabei, damit sich der Hund daran gewöhnt. Während der halbstündigen Übung wird Emil sie sicher durch St. Gallen führen, durch Strassen, über Treppen, an Baustellen vorbei und sogar in den Bus und wieder hinaus. 

Ich kann davon leben, werde aber nicht reich.
Tanja Scheiwiller, Blindenführhundeinstruktorin

Seit fünf Jahren arbeitet Scheiwiller hauptberuflich für die Ostschweizerische Blindenführhundeschule in Goldach. «Ich kann davon leben, werde aber nicht reich.»  

Diese Stiftung ist eine von vier Führhundeschulen der Schweiz. Sie erhält zwar Gelder der Invalidenversicherung, ist aber auf Spenden angewiesen. Etwa fünf bis sechs Hunde bilden Scheiwiller und der Geschäftsführer im Jahr aus.

Bei Scheiwiller und ihrem Freund, der als Informatiker arbeitet, lebt auch Labrador Charly. Er ist ebenfalls in Ausbildung. Das Paar wohnt mit den Hunden in einem Haus mit Garten bei Winterthur.

Das Zusammenspiel von Mensch und Tier und das Erreichen eines sinnvollen Zieles sind die Gründe, weshalb Scheiwiller ihre Arbeit so gut gefällt. «Sie wird auch sehr geschätzt.» Neben Geduld und ihrer Beobachtungsgabe bringt sie viel Einfühlungsvermögen mit – nicht nur für das Tier, sondern auch für den Menschen. Scheiwiller wählt die Halterin passend zum Wesen des Hundes aus, führt ihn bei ihr ein und betreut das Zweiergespann, bis der Hund «pensioniert» wird. 

Mit Hunden und Nagetieren aufgewachsen

Scheiwiller wuchs mit Hunden, Katzen und Nagetieren auf. Sie lernte Typografin, arbeitete in der Freizeit mit Pferden und bildete sich zur Zoo-Wildtierpflegerin aus. Sie war zehn Jahre lang im Zoo Zürich tätig. Doch irgendwann fehlte ihr «der Bezug zum Menschen».  

Auf die Ausbildung zum neuen Beruf stiess sie per Zufall, wobei ihre Schwägerin schon Welpen als Patenhunde aufgenommen hatte. Denn die künftigen Blindenführhunde leben die erste Zeit bei einer Patenfamilie, die die Hunde sozialisiert und an die Umwelt gewöhnt.

An die Trennung von Hunden, mit denen ich arbeite, werde ich mich nie gewöhnen.

Die spätere Trennung vom Hund ist für Paten wie auch Instruktoren schwierig. «Daran werde ich mich nie gewöhnen», sagt Scheiwiller. Die Tiere gehören zu ihrem Leben, sie nimmt sie auch in die Ferien mit. Von Anfang an zu wissen, dass der Tag komme, helfe. Und dass sie die Hunde weiter betreue, bis sie ihren Dienst beenden, ebenfalls.  

Am St. Galler Bushof ruft Scheiwiller jetzt «Taxi Zebra». Emil steuert einen Abfalleimer an. «Nein», sagt sie, wiederholt den Befehl. Ihre Stimme bleibt ruhig. Emil führt sie nun zu einem Aufmerksamkeitsfeld für Sehbehinderte, einem mit weissen Streifen durchzogenen Viereck. Das ist die Stelle, wo der Bus halten und sich die vorderste Tür befinden wird. «Brava», sagt sie und streichelt ihm über den Kopf. 

Emil kennt über 36 Hörzeichen. Nicht immer klappt in der Ausbildung alles. «Doch am Ende funktioniert es», sagt Scheiwiller. Das sei wie ein Wunder.