Ganz dunkel wurde es erst in ihrem zehnten Lebensjahr. Davor konnte Ursula Graf, die mit einem Gen-Defekt auf die Welt gekommen ist, noch Umrisse und Schatten erkennen. Wir treffen uns beim Treffpunkt am Hauptbahnhof Zürich, wo um die Mittagszeit stets rege Betriebsamkeit herrscht. Wie fühlt man sich an einem solchen Ort, wenn man nichts sehen kann? Um das herauszufinden, nimmt uns Graf mit auf einen kleinen Spaziergang quer durch den Bahnhof und die Bahnhofstrasse.
Zusammenstoss kommt vor. Rasch wird klar: Diese Frau ist alles andere als hilflos. Zielstrebig und schnell bewegt sie sich durch die grosse Halle, manchmal haarscharf vorbei an Hindernissen wie Gepäckstücken oder Velos, die im Wege stehen. Viele Menschen gehen zur Seite, andere schreiten unbeirrt voran, sodass Graf ausweichen muss. «Oft schauen die Leute nicht auf den weissen Stock, weil sie nur mit sich selber beschäftigt sind. Da gibt es schon mal einen Zusammenstoss», erzählt sie, während sie ihren Stock über die Boden-Markierungen für Sehbehinderte gleiten lässt. Umso wichtiger ist für sie ihr feines Gehör. «Ich orientiere mich stark an den Geräuschen». Dank dem Echo weiss sie, wo eine schützende Wand oder Hecke ist; tönt es «leer», ist Vorsicht angezeigt. Verloren fühle sie sich kaum. Auch nicht an ihr unbekannten Orten. Denn als Seelsorgerin der Reformierten Blindenseelsorge reist sie im ganzen Kanton Zürich umher, um ihre «Klienten» zu besuchen. «Da sollte man keine Angst haben.»
An die Blindheit, in ihren Worten ein «Programmierfehler», hat sie sich längst gewöhnt. Nicht alle können so gut damit umgehen wie sie. Viele hadern mit ihrem Schicksal. Solche, die von Geburt an blind sind, und solche, die plötzlich erblinden oder sich langsam von ihrem Augenlicht verabschieden müssen. «Warum ausgerechnet ich?» – ein Satz, den sie oft höre. Für diese Menschen ist Graf da. Hört ihnen zu, macht ihnen Mut. Auch wenn es darum geht, den weissen Stock zu beantragen, was vielen schwerfalle. Er weist auf eine Schwäche hin, man gibt sich als blind zu erkennen. Für die Powerfrau bedeutet der Stock in erster Linie Freiheit. Bis vor Kurzem war sie noch mit Königspudel Patsy unterwegs, die nun aber krank und nicht mehr als Blindenhündin einsetzbar ist.
Abrupt hält Graf an. Von rechts naht ein Tram. Ihr Orientierungssinn erstaunt: «Wir befinden uns dort, wo die Linie 6 in die Bahnhofstrasse einbiegt.»
Guter Draht nach Oben. Graf liebt Literatur und schwärmt für den EHC Kloten. Das Blindsein ist für sie eine Bereicherung: «Ich werde nicht von Äusserlichkeiten abgelenkt.» Mit bunten Kleidern lasse sich eine Depression leicht überdecken – ihr könne man nichts vormachen. Sie hat einen direkten Zugang zu Menschen und hört ihrem Gang an, ob es ihnen gutgeht oder nicht. «Das Wesentliche sehe ich klar und deutlich.» Wichtig ist für sie der Glaube, auch wenn sie diesen niemandem aufdrücken will. Dank ihrem «guten Draht nach oben» könne sie die Liebe weitergeben, die sie selber bekomme. Und sie vermittelt inmitten der Hektik des Alltags: Ein bisschen mehr Hellhörigkeit kann dann und wann nicht schaden.