Warum der Pfarrer das Postauto lenkt

Beruf

Pfarrer und Busfahrer gleichzeitig: Für Hans Martin Enz ist dies keine doppelte Belastung, sondern Entlastung und Horizonterweiterung.

Freitagmorgen um 8.25 Uhr auf dem Bahnhofsvorplatz in St. Gallen: Aus dem gelben Postauto der Linie 120 von Herisau hasten die Passagiere zu den Zügen. Fünf Minuten Verspätung. Nachdenklich blickt der Chauffeur durch seine randlose Brille. «Wir sind am liebsten pünktlich», sagt Hans Martin Enz. Aber Baustellen und der von Jahr zu Jahr wachsende Verkehr machten es oft nicht möglich, den eng getakteten Fahrplan einzuhalten.

Keine gute Werbung für den öffentlichen Verkehr. Und der ÖV ist Enz nicht nur wegen seines Berufs ein Anliegen, sondern weil ihm die «Bewahrung der Schöpfung» wichtig ist. Damit sind wir bereits beim entscheidenden Punkt angelangt: Enz ist ein busfahrender Pfarrer. ­Einer, der sich auch innerhalb der Kirche für die Umwelt engagiert.

Im Talar in der Garage

Nur wenn der Wecker wie heute Morgen in seinem Haus in Steinach am Bodensee fünf Minuten vor vier Uhr klingelt, steht kein Bus bereit. Deshalb nimmt er sein Elektroauto vom Stecker und düst durch Obstbaumwiesen zur Garage nach Engelburg. 2014 ist der Funktionsbau eingeweiht worden. Enz ist damals in die Rolle des Pfarrers geschlüpft und hat über das gelbe Hemd den schwarzen Talar gezogen, um den Neubau einzuweihen.

Aber im Alltag will der Theologe bei seinen Kollegen Gleicher unter Gleichen sein. Im Pausenlokal der Postautogarage Engelburg erklärt er, dass der kollegiale Kontakt seinen Horizont erweitere. Schon als er sein erstes Pfarramt im appenzellischen Schwellbrunn antrat, sass er im Nebenjob hinterm ­Steuer. «Das gehört zu mir von Anfang an, nicht zu einseitig nur auf den Pfarrberuf setzen.» Im Pfarrberuf drehe sich das Gedankenkarussell unaufhörlich. «Wenn ich hingegen das Postauto in der Garage abgestellt habe, dann muss ich über nichts mehr nachstudieren.»

Als Student ein Postauto gekauft

Angefangen hat die Liaison mit den Bussen, als er vor gut dreissig Jahren Theologiestudent war. Damals hat er zusammen mit einem Kollegen ein Oldtimer-Postauto gekauft. Bald schon war die Führerscheinprüfung für Cars bestanden, und er steuerte mit dem Bus Jugendliche ins Cevi-Lager.

Heute ist er mit einem Stellenpensum von dreissig Prozent bei der Postauto AG unter Vertrag, zu fünfzig Prozent bei der Kirchgemeinde Arbon als Pfarrer. «Die Leute sagen mir manchmal, dass sie bei meinen Predigten spüren, dass ich noch an einem anderen Ort im Leben unterwegs bin», sagt er. Auch die Konfirmanden kutschiert der busfahrende Pfarrer ins Lager.

Ausserdem organisiert Enz Car-Reisen. Berühmt in Kirchenkreisen wurde er mit seinen Fahrten auf den Spuren von Reformator Zwingli – ein Roadtrip zwischen Wildhaus, Einsiedeln und dem Schlachtfeld beim Kloster Kappel.

Mehr als religiöser Service

Die Zwingli-Kirche von heute macht Enz Sorgen: «Unsere Kirche ist immer mehr ein Dienstleistungsbetrieb geworden. Taufen oder Hochzeiten werden als religiöser Service bestellt. Aber die meisten wollen nicht über Religion reden.»

Der Pfarrer braucht immer wieder Abstand. So setzte er sich 2013 ganz hinter das Steuer von Postautos und Reisecars, um sich nach elf Jahren vom Pfarramt zu erholen. Dennoch zog es ihn zurück auf die Kanzel. In Arbon wagte er nach der Auszeit den Neustart.

Hans Martin Enz, 59

Neben seinem Postauto- und Pfarr­pen­sum organisiert Hans Martin Enz auch Carfahrten auf den Spuren Zwing­lis. Die Idee kam ihm, als er eine Zürcher Kirchendelegation bei einer Luther-Exkursion nach Wittenberg chauffierte. Enz ist verheiratet und Vater von zwei Kindern.