Recherche 01. Juni 2022, von Christian Kaiser

Harte Schicksale per Motorsäge ins Holz geschnitten

Flüchtlingstag

Der Künstler Peter Leisinger hat Dutzende Holzfiguren von Flüchtenden geschaffen. Sie bevölkern rund um den Flüchtlingstag am 20. Juni Kirchplätze in Zürich, Bern und St. Gallen.

Man kennt sie, die Figuren von Peter Leisinger. Sein Stil ist unverwechselbar. Am Bahnhof in Malans begrüssen sie einen von weitem. Auf den ersten Bick wirken sie lebhaft, echt, erst beim zweiten Hinsehen entfalten sie ihre wahre Natur: mit Motorsäge in Nadelhölzer gesägt, mit wasserlöslichem Autolack dauerhaft koloriert. 

Zwischen den rund 20 Wartenden am Bahnhof – Geschäftsleute mit Aktenkoffer, spielende Kinder, Winkende – stehen auch aufrecht zwei Wölfe. Der eine gross und schwarz mit blauen Latzhosen und weisser Umhängetasche und funkelnden roten Augen; eher ein Wolf zum Schmunzeln als zum Fürchten. Eine Persiflage auf die nicht nur im Bündnerland hochwogenden Emotionen rund um den Wolf.

Charakteristisch für Leisinger: Er nimmt typisch Menschliches augenzwinkernd auf die Schippe. Und doch knöpft sich der ehemalige Psychiater immer wieder ernste Themen vor, bei welchen der Mensch für andere Menschen zum Wolf wird. So auch in seinem neusten Grossprojekt «entwurzelt und ausgeliefert», in dem er die Not der Flüchtenden figürlich ins Blickfeld rückt.

Rund um die Flüchtlingstage vom 18. (Nationaler Flüchtlingstag) bis 20. Juni (Weltflüchtlingstag) stehen Leisingers lebensgrosse Figuren vor dem Zürcher Grossmünster, der Berner Heiliggeistkirche und der St. Galler Laurenzenkirche – dicht aneinandergedrängt in einem Pulk. Leisinger: «Durch das enge Zusammenstellen wollen wir die Platznot in den Flüchtlingslagern zeigen.» Erst wollte Leisinger in fünf Städten gleichzeitig präsent sein, dann wurde das dem bald Achzigjährigen dann doch etwas viel.

Auf seinem Werkplatz am Fuss des Rebbergs in Malans stehen seine bunten Figuren zu Dutzenden sortiert zum Abtransport bereit, daneben ein paar überzählige, die für Chur und Basel bestimmt waren. Kauernde Mütter, die Kinder beschützen, einzelne Köpfe und ganze Gruppen, die unter Pellerinen im Regen stehen: die reiche Ernte der Schaffenskraft eines Leidenschaftlichen, entstanden in monatelanger Handarbeit.

Jede Figur für sich hat ihren ganz eigenen Charakter – eigentlich erschafft Leisinger dreidimensionale Portraits mit der Motorsäge. «Die Vorlagen dafür finde ich in den Skizzen, die ich dauernd mache: im Zug, in Restaurants, beim Warten.» Oder auf Zeitungsbildern und in Fotografien von seinen Reisen. Leisinger sägt die Persönlichkeiten aus seinem liebsten Werkstoff: Stämmen harzhaltiger Bäume wie Zeder, Thuja oder Lärche.

Holz springt entlang den Fasern, die Furchen geben den Köpfen Struktur, das Leben der Bäume steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Und wenn Leisinger so bei einem runzligen, beduinenartigen Orientalen mit Schnauz steht, wirkt es, als hätte er sich selber ins Holz gesetzt. In der Masse entwickeln diese vom Schicksal gezeichneten Einzelfiguren in ihrer stoischen Ernsthaftigkeit eine unglaubliche Wucht.

Mahnmal und Aufruf zugleich

«Die spielenden Kinder dazwischen sollten uns hilflose Zuschauer etwas trösten», sagt Leisinger, der  sich eine Aussage Tschechows zu Herzen genommen hat: Kunst müsse kühn, wahrhaftig und herzlich sein. Nun werden vom 11. Juni an Konfirmanden, Kirchgängerinnen und Touristenströme auf dem Weg ins Grossmünster an dieser geballten Ladung von Flüchtigen aus allen Ländern vorübergehen. 

Das ist ganz im Sinne des Grossmünsterpfarrers Christoph Sigrist: «Die Figuren sollen uns daran erinnern, dass die syrischen oder afghanischen Flüchtlinge, die seit Monaten bang auf einen Aufnahmeplatz wartend ausharren, aus demselben Holz geschnitzt sind wie die ukrainischen, die wir freundlich willkommen heissen.» Auch für die im Mittelmeer ertrunkenen Bootsflüchtlinge soll die Ausstellung ein Mahnmal sein. Sigrist: «Das Holzschnittartige von Leisingers Kunst ist genau richtig, um auf die Essenz hinzuweisen: die Pflicht zur Flüchtlingshilfe.»

Veranstaltungen rund um die Flüchtlingstage vom 15. bis 20. Juni:

Das Programm der Zürcher Altstadtkirchen zum Flüchtlingstag

Infos zum Zürcher Flüchtlingstag am 15. Juni 2022

Infos zum nationalen Flüchtlingstag: www.beimnamennennen.ch

Die Leisingers: ein engagiertes Künstler-Paar

Die Leisingers: ein engagiertes Künstler-Paar

Maria und Peter Leisinger sind ein eingespieltes Paar, das seit 50 Jahren zusammenwirkt. Und spätestens seit 2011, als Peter Leisinger seine Arbeit als Psychotherapeut ganz aufgab, dreht sich bei den Leisingers alles um die Kunst. Von der Ideenentwicklung auf gemeinsamen Spaziergängen über die Ausstellungsrealisation bis hin zum Verkauf der Werke – alles wird auf Augenhöhe gemeinsam besprochen und entschieden.

Den Themen Flucht und Fremde begegnete Peter Leisinger in seinem ereignisreichen Leben immer wieder. Schon als Kind in Küsnacht; seine Eltern, der Vater arbeitete als Zahnarzt in Zürich, begannen sich nach dem Einmarsch der Chinesen in Tibet 1950 für die Kultur und das Schicksal der Tibeterinnen und Tibeter zu interessieren. Zum Beispiel für das tibetanische Totenbuch, welches die «Kunst des Sterbens» beschreibt und mit welchem sich der ebenfalls in Küsnacht wohnhafte Psychiater C.G. Jung beschäftigte. 

1973 reiste Peter Leisinger mit Maria, die er kurz zuvor in Zürich kennengelernt hatte mit einem VW auf dem Landweg nach Indien, um als junger Arzt in einem tibetischen Kinderdorf im Himalaja zu arbeiten. Sie lebten ein Jahr in Dharamsala, dem Sitz der tibetischen Exilregierung. Peter Leisinger erinnert sich an die Bilder von Tibet-Flüchtlingen entlang der Strassen auf einer Strecke von Hunderten von Kilometern. 

Später betrieben die Leisingers ein kleines Spital im Bergland von Butan. In dieser Zeit brachten sie mit Pferden auch medizinische Versorgungsgüter in abgeschiedene Bergdörfer. Auch darum ziehen sich immer wieder Karawanen mit beladenen Pferden, Eseln und Kamelen als Motiv durch Leisingers Werk – und manchmal fliegen die Karawanenkamele sogar durch die Wolken.

Die Flüchtlingsthematik beschäftigt die Leisingers auch künstlerisch schon seit einigen Jahren. 2021 etwa zeigten sie im Anna Göldi Museum Glarus Skulpturen und Installationen rund um den Schwerpunkt «Flüchtlingslager». Auch den Bootsflüchtlingen hat sich Leisinger schon früher angenommen, etwa mit Holzschnitt-Drucken oder in der Ausstellung «Durchreise» 2016 in Zug. 

Das Schaffen der Leisingers auf das Flüchtlingsthema zu reduzieren, würde ihrem vielseitigen Werk aber überhaupt nicht gerecht. Peter Leisinger braucht die lockere, leichte Abwechslung, besonders nach einer so intensiven Schaffensphase wie für die Figuren für die aktuellen Ausstellungen rund um die Flüchtlingstage. Sein letztes Werk ist ein riesiges Pferd, das mit gekreuzten Hinterbeinen aufrecht an einem Bartisch steht, mit den Vorderhufen lässig aufgestützt, dem Jolly Jumper aus dem Comic Lucky Luke nicht unähnlich. Es scheint sich hervorragend zu amüsieren. Diese Art von Schalk ist typisch für Leisingers Handschrift mit der Motorsäge.

Webseite des Künstlers: www.peterleisinger.com