Recherche 31. Juli 2023, von Carmen Frei

Achtsam auf dem E-Bike unterwegs – eine Testfahrt

Achtsamkeit

Innere Einkehr in schönen Landschaften und «Raststätten des Glücks»: Am neuen Achtsamkeits-E-Bike-Trail durchs Seetal ist auch die Reformierte Kirche Aargau beteiligt.

Zwei Frauen sind auf ihren Velos unterwegs. Plötzlich stoppt die hintere, steigt ab und läuft einige Meter zurück. Freudig hebt sie eine Vogelfeder vom Feldweg auf. Sie klemmt sie vorsichtig unter den Gepäckträger und ruft ihrer wartenden Kollegin zu: «Diese Feder musste ich einfach haben.» Eine Beobachtung auf dem Weg zur Testfahrt auf dem E-Bike-Achtsamkeitstrail.   

«Achtsam zu sein, heisst, voll undganz den gegenwärtigen Moment wahrzunehmen – ohne Urteil und Ablenkung, dafür mit Offenheit und Neugier.» Das sagte wenige Tage zuvor Jörg Kyburz von der Akademie für Achtsamkeit in Lenzburg bei derEröffnung des Achtsamkeitstrails. Kyburz hat die erste E-Bike-Route dieser Art hierzulande im Auftrag von Seetal Tourismus mitentwickelt.Auch Vera Büchel, Geschäftsstellenleiterin von Seetal Tourismus, wandte sich bei der Eröffnung Mitte Mai ans Publikum: «Das neue Angebot lädt ein, den Alltagsstress und die ständige Erreichbarkeit zu vergessen und sich bewusst mit der Natur auseinanderzusetzen.» 

Aufs Geniessen einlassen  
Wer während der Fahrt das Handy nicht benutzen will, kann bei Seetal Tourismus Kartenmaterial beziehen.Weil dort die Achtsamkeitsposten zwischen Lenzburg im Kanton Aargau und Hohenrain im Kanton Luzern nur grob eingezeichnet sind, warf ich vorgängig einen Blick auf die Website. Alle Übungen zum Trailhabe ich auf der Testfahrt bei mir, sie sind im Achtsamkeitstagebuch beschrieben, das zum analogen Package gehört.  

Die Route bringt mich kaum ins Schwitzen. Mehr als 500 Höhenmeter müssen nicht überwunden werden. Der Trail liesse sich gut ohne motorisierte Unterstützung unter die Räder nehmen. Beim achtsamen Unterwegssein durchs Seetal geht es aber nicht um körperliche Ertüchtigung. Vielmehr ermöglicht das E-Bike, sich entspannt auf die Schönheit der Landschaft einzulassen. Bei den Selbstverleihstationen an den Bahnhöfen Lenzburg, Beinwil am See und Hochdorf können E-Bikes gemietet werden.

Von Dankbarkeit und Mut
62 Kilometer lang ist die gesamte Strecke. Zwischen Lenzburg und Hallwilersee sind vier «Raststätten des kleinen Glücks» platziert, zudem aktuell zwei am Baldeggersee, wo nächstes Jahr weitere Stationen folgen werden. Dort kann man sich in die Themen Danken, Begegnen, Handeln, Entstehen, Staunen, Sein, Gehen und Öffnen vertiefen.  

Für heute nehme ich mir die Posten der Hallwilersee-Route vor. Im Wald zwischen Lenzburg und Seon,am Ufer des Aabachs, ist die erste Raststätte. Hier darf ich Steinmännchen bauen. Bevor ich einen Stein auf den anderen setze, soll ich mich an eine Situation, einen Menschen oder eine Sache erinnern, einfach an etwas, wofür ich dankbar bin. Tatsächlich sind meine Gründe zur Dankbarkeit zahlreicher als die Steine, die ich zu schichten vermag, bevor das Werk umkippt. Eine befriedigende Erkenntnis. Weiter geht es Richtung Seengen. Zuerst zum alten Richtplatz nahe dem Schloss Hallwyl; dann auf den Rügel. 

Das Angebot lädt ein, den Alltagsstress und die ständige Erreichbarkeit zu vergessen.
Verena Büchel, Seetaltourismus

Die Reformierte Kirche Aargau ist Mitunterstützerin des Seetaler Achtsamkeitstrails sowie Gastgeberin einer der Glücks-Raststätten. Beim Labyrinth auf dem Gelände des Tagungshauses Rügel Seengen findet sich ein Metallschild, auf dem Begriffe aufgelistet sind: Vertrauen, Grosszügigkeit, Mitgefühl, Freundlichkeit und Mut. Gleich darunter steht die Anleitung: «Wähle einen Begriff aus und gehe mit ihm langsam durch das Labyrinth. Was bewegt dieses Wort in deinem Innern – was trägst du davon nach aussen?» Am Ende des Labyrinths dann, im Aussen, angekommen, soll ich eine Handlungsabsicht für den Alltag in mein Tagebuch notieren. Ich entscheide mich für den Begriff Mut und schreibe ins Buch: «Ich habe den Mut, auch meine künstlerische Seite zu leben.» 

Ganz im Hier und Jetzt  
Anschliessend düse ich rassig den Rügel hinab, pedale gut gelaunt querfeldein Richtung Fahrwangen. Im Geist wiederhole ich, wie beim letzten Posten angeregt, meine Handlungsabsicht fünf Mal. Ich muss lachen, als ich bei der Feuerstelle am Waldrand vom Rad steige und mich die letzte der vier «Glücks-Raststätten» mit einem Zitat der amerikanischen Schriftstellerin Pearl S. Buck empfängt: «Die wahre Lebenskunst besteht darin, im Alltäglichen das Wunderbare zu sehen.» Dieser Posten nun ist dem Entstehen gewidmet. Mit verschiedenen Fundstücken aus dem Wald kreiere ich ein Kunstwerk, ein Mandala. Ich soll mich voll und ganz auf das Tun konzentrieren und alle Gedanken vorüberziehen lassen, ohne mich mit ihnen zu beschäftigen. 

Wer das Handy doch einmal hervorholen will, landet via QR-Code auf dem Metallschild beim passenden Audiofile auf der Website des Seetal-Trails. Dort wird diese Aufgabe – wie bei allen anderen Übungen – ausführlicher als auf der Tafel in Mundart oder Hochdeutsch angeleitet. Alle Achtsamkeitsübungen können übrigens auch als Einzelperson, als Paar oder Gruppe absolviert werden. Wer möchte, kann sich zudem von zertifizierten Achtsamkeitstrainerinnen und -trainern führen lassen.  

Laut Jörg Kyburz empfinden immer mehr Menschen ihren Alltag als zu schnell, zu dicht, zu sehr von Reizen überflutet. Da wird eine Feder auf dem Feldweg rasch übersehen. Der E-Bike-Achtsamkeitstrail ist eine unkonventionelle Hilfestellung, um für ein paar Stunden wieder ganz in die Kraft des Hier und Jetzt zu kommen