Recherche 20. November 2020, von Rita Gianelli

Ende eines Schafsommers

Engadin

Elf Monate im Jahr reist der Deutsche Christian Zill durch die Alpen und befreit Schafe von ihrem Wollpelz. Jeden April und jeden November macht er Halt bei Duri Casty in Zuoz.

Kyra bellt. Es ist kurz nach sieben Uhr morgens. Durch den dichten Morgennebel erblickt Duri Casty die Scheinwerfer von Christian Zills VW-Bus, der gerade auf den Vorplatz einbiegt. Casty winkt ihn zum Parkplatz; die beiden begrüssen sich kurz mit Handschlag. Viele Worte wechseln sie nicht, denn ab sofort ist Zeit Geld. Zill arbeitet im Akkord als Schafscherer. Heute wird er auf dem Hof der Castys in Zuoz 220 Schafe in weniger als 7 Stunden scheren und sie dabei um rund 660 Kilogramm Wolle erleichtern. Eines wird er dabei leicht verletzen. Während der Schafbauer mit Kyra zurück in den Stall geht, trägt der Schafscherer sein Werkzeug in das für die Schur freigeräumte Strohlager: eine Holzunterlage, eine elektrische Schafschere, aufgehängt an einer Eisenstange, damit der Scherer ihr Gewicht nicht halten muss, und das «Backaid», eine Art Trapez, an zwei riesigen Federn aufgehängt und mit Lammfell gepolstert. Darin wird Zills Oberkörper in den kommenden Stunden beinahe ununterbrochen hängen. Es entlastet seinen Rücken um zehn Kilo. Zill trägt ein Paar Schermokassins aus gefilzter Schafwolle. «Damit spüre ich das Schaf besser und verletze es nicht, wenn ich es zwischen meinen einen halte», sagt er. Das wertvollste Utensil bewahrt Zill in einem schwarzen Hartschalenkoffer auf: ein Set Schafschurmesser von Heiniger. «Kosten 2000 Franken, aber etwas Besseres gibt es nicht auf dem Markt. Die Schweizer sind darin unschlagbar», findet der Deutsche.

Scheren ist Spitzensport
Im Stall ist es ruhig. Duri Casty bespricht mit seinem Sohn Andri, welche Tiere zuerst drankommen. Andri Casty ist für die Schafzucht zuständig, der Vater für die Pferde. Um Biogasanlage, Freilaufhühner, Hofladen und Hofmetzgerei kümmern sie sich gemeinsam. Duri Casty blickt über die Herde im Stall. Den ganzen Sommer haben sie mit rund 800 anderen Schafen auf der nahegelegenen Alp Artgas und Alp Albanas verbracht, zuletzt bis auf 2500 Höhenmetern, zwischen Sträuchern und Büschen, Bächen und Geröllhalden. «Da bleibt schon mal was im Fell hängen», sagt Casty schmunzelnd, «Christian freut das jeweils nicht so sehr, denn Sand und Dornen in der Wolle ruinieren seine Messer.» Im Strohlager rappelt sich derweil das erste geschorene Schaf hoch und steuert etwas benommen zurück zum Stall. Domingos José Oliveira Alves, einer der beiden portugiesischen Betriebsangestellten, hat mit gekonntem Griff bereits das nächste Schaf in eine Art Sitzposition gebracht, sodass es der Scherer unter den Vorderläufen zu sich auf die Holzplatte ziehen kann. Dann schiebt er schnell dessen rechten Vorderlauf zwischen seine Beine, womit er das Schaf fixiert. Jetzt beginnt er, den Bauch in gleichmässigen Zügen zu scheren, macht einen Schritt nach vorn und setzt das Schermesser am Hals an.

Dann dreht er das Schaf zur Seite, rasiert dessen Kopf und einen Teil des Rückens, kippt es auf die andere Seite, schert die letzte Rückenpartie und den Schwanz. 125 Sekunden dauert der Vorgang. Ziemlich lange, wenn man es mit seiner Bestzeit im letzten Jahr am Schafschur-Wettkampf im schwyzerischen Oberarth vergleicht. 39 Sekunden brauchte er für ein Schaf. «Ein Tag Schafscheren verbrennt gleich viel an Kalorien wie ein Marathonlauf», sagt Duri Casty. «Nur, dass ich jeden Tag einen laufe», ergänzt Zill, nachdem er sich kurz aus dem Backaid gehievt und wie nach jedem Schaf auf den mechanischen Zähler gedrückt hat.

Wertlose Wolle
Als Duri Casty sechs Jahre alt war, schenkte ihm sein Vater zwei Schafe zum Geburtstag. Seither sind Schafe ein Teil seines Lebens. «Früher hatte jeder Bauer neben den Kühen ein paar Schafe, das gibt es immer weniger», sagt Duri Casty. «Heute musst du dich spezialisieren und eine gewisse Anzahl Tiere haben, damit du davon leben kannst.» Oder man versucht es mit Nebenerwerben. Wie die Romingers im Fextal, die neben ihren 30 Engadiner Schafen eine Besenbeiz betreiben und selber Damastmesser herstellen. Oder wie Aussteiger Jürg Wirth in Lavin. Er kaufte sich vor Jahren ein paar Heidschnucken dazu, weil ihm «der widerspenstige Charakter» dieser Schafe gefiel. Sein Einkommen erwirtschaftet er aber mit einer kleinen Milch- und Käseproduktion seines rätischen Grauviehs und dem Nebenverdienst als Redaktor eines Gäste- und Informationsmagazins im Unterengadin. «Alle hierhin», ruft plötzlich eine Kindergärtnerin, die mit ihrer Gruppe zu Besuch auf dem Hof ist. Der Scherer hält inzwischen Schaf Nummer 39 zwischen den Beinen. Unter den Kindern, die mit offenen Mündern die Szene verfolgen, ist auch Maira, Andri Castys jüngste Tochter. Die Kindergärtnerin greift in einen riesigen Sack Wolle und reicht jedem Kind ein Büschel. «Bringt ihr die nach Ftan?», ruft sie Duri Casty zu. Der winkt ab. «Alles zur Fiwo im Thurgau.»

Fiwo steht für «Förderung innovativer Wollverarbeitung Ostschweiz». Die Non-Profit-Organisation sammelt Wolle in der ganzen Schweiz ein und verarbeitet sie hauptsächlich zu Isolationsmaterial. Nach Schaf Nummer 63 machen alle Pause, Andri hat Brötli geholt. Zill nimmt nur einen Schluck Mineralwasser und greift nach der Zigarettenschachtel. Schweiss tropft ihm von der Stirn. An seinen Mokassins klebt Blut. «Unter der Wolle siehst du nicht immer alles», sagt er. Beim Scheren hat er einem Schaf versehentlich eine Zyste aufgeschnitten. Blut und Eiter sind ausgelaufen. «Nicht weiter schlimm, gut, dass das jetzt offen ist», sagt Zill. Duri Casty wird es am Abend mit Kamillosan ausspülen. «Beim Scheren bist du voll und ganz bei der Sache, wenn du das nicht bist, passieren Fehler», sagt Zill. Jährlich sterben ein bis zwei Scherer bei der Arbeit. Weil das Messer abrutscht und die Pulsader trifft.

Gefahr Alpsommer
Todesursache Nummer eins für chafe ist das Sömmern auf der Alp: Krankheiten, die nicht schnell genug behandelt werden können, Blitzund Steinschlag oder später Schneefall, auch Raubtiere wie Wolf oder Bär sind wieder Gefahren für die Schafe. «Hier zieht der Wolf glücklicherweise vorbei», sagt Duri Casty, «bei uns ist er unerwünscht.» Dass der Wolfsschutz an der jüngsten Abstimmung nicht gelockert wurde, habe man den Unterländer Tierschützern zu verdanken. «Genau das Gegenteil erreichen sie damit.»

Zunehmende Bürokratie
Draussen hat sich der Nebel gelichtet, die Sonne wärmt die leeren Weiden. Christian Zill hält Schaf Nummer 102 zwischen den Beinen und Duri Casty schaut zu, wie sein Sohn diesem eine zweite gelbe Marke ins Ohr knipst. Denn neu will der Bund, dass auch Schaf- und Ziegenhalter sämtliche Geburten, Zu- und Abgänge festhalten. Bei den Schafen sei das enorm schwierig, meint Andri Casty, der eine kaufmännische Lehre und die Betriebsleiterausbildung am Plantahof absolviert hat. Schafe leben in grossen Herden und ein Lamm könne daher nicht immer einwandfrei der richtigen Mutter zugeordnet werden. «Für uns Schafbauern bedeutet das einen enormen bürokratischen Aufwand.» «Immerhin bekommt ihr Direktzahlungen», ruft Zill dazwischen, während er vor seinem Messerkoffer kniet und die Klingen wechselt. In der EU seien die Bauern komplett dem Freihandel ausgeliefert. Ein Kilogramm Schaffleisch koste in der EU etwa 1 Euro 80. In der Schweiz bekomme der Schafbauer immerhin rund 6 Franken 50, und etwas mehr gibt es für Bio-Betriebe.

12 Uhr. Zill zieht sich eine Jacke über das verschwitzte T-Shirt und schlüpft aus den Woll-Mokassins in die Holzschuhe. «Wie viel haben wir?», fragt Casty. «102», sagt Zill, «mir wär’ lieber, wir hätten schon mehr und wären früher fertig.» Sie steigen in Castys Toyota und fahren ins Dorf, heim zum Mittagessen. Erst nach Einbruch der Dunkelheit wird Christian Zill alle Schafe geschoren haben, sich in seinen VW-Bus setzen und ein Zimmer irgendwo im Oberengadin beziehen. Vielleicht gönnt er sich ein Feierabendbier in der Dorfbeiz. Doch ganz früh am nächsten Morgen wird er wieder durch den Engadiner Nebel fahren und seinen nächsten Marathon antreten, beim nächsten Schafbauern.

Das Schaf als Symbol

Es ist das älteste Haustier des Menschen. In vielen Kulturen ist es ein Sinnbild der Reinheit, Unschuld, Geduld und der Sanftmut. Es ist das Opfertier, das bei Ernten, Geburten, Siegen geschlachtet wird. In der Weihnachtsgeschichte symbolisiert es die Gläubigen. Es liegt neben der Krippe mit dem neugeborenen Christus, der selbst oft als guter Hirte dargestellt wird, ein Symbol für die Orientierung auf dem Weg zu Gott.