Moralisch legitim, aber immer hochproblematisch

Abstimmung

Tierversuche sind grausam. Sollen sie verboten werden? Was der Theologie- und Ethik-Professor Mathias Wirth dazu sagt und wie stark der heutige Tierschutz christlich geprägt ist.

Keine Tier- und Menschenversuche mehr in der Schweiz – und auch keine Ein- und Ausfuhr von Produkten, die so entwickelt wurden: Das will die Tierversuchsinitiative, über am 13. Februar abgestimmt wird. Moralisch scheint sie auf den ersten Blick einsichtig: Dürfen wir uns so über die Tiere erheben, dass wir sie mutwillig grosse Leiden aussetzen – bloss, damit Menschen (hoffentlich) künftig weniger leiden müssen?

Die Tierversuchsinitiative

Die am 13. Februar 2022 zur Abstimmung kommende Volksinitiative fordert ein Verbot von Tierversuchen. Produkte, die unter Anwendung von Tierversuchen entwickelt wurden, sollen zudem nicht mehr importiert werden dürfen. Die Initiative verlangt auch, dass Forschung, die ohne Tierversuche auskommt, mindestens dieselbe staatliche Unterstützung erhält wie heute diejenige mit Tierversuchen. Auch sogenannte Menschenversuche sollen verboten werden.

Für die Initianten sind Tierversuche unethisch und ineffizient. Zu gross seien die Unterschiede zum Menschen, zu klein die relevanten Erkenntnisse. Zudem würden 95 von 100 Wirkstoffen im Menschenversuch, selbst wenn sie im Tierversuch noch Erfolg verhiessen. Im Parlament hat keine Fraktion die Initiative zur Annahme empfohlen, Gegenvorschlag gibt es keinen, die Universitäten stehen für eine Ablehnung ein.

Die christlichen Hintergründe des Tierschutzes

Die Schweiz hat eines der weltweit strengsten Gesetze für Tierversuche: Ein Tierversuch wird nur bewilligt, wenn die Ergebnisse nicht auf anderem Weg erzielt werden können. Das heisst: Ein Gremium von Fachleuten unterschiedlicher Fachrichtungen hat das Forschungsziel für wichtiger befunden als das Wohl der Tiere. Die Forschenden dürfen schliesslich mit nur so vielen Tieren arbeiten wie unbedingt nötig, und sie müssen deren Belastungen so gering wie möglich halten.

Was nicht breit bekannt ist: Grundgedanken des Schweizer Tierschutzes gehen auf christlich und evangelisch-reformiert motivierte Ideen zurück. Bereits in der Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments kommt zum Ausdruck: Tiere sind Mitgeschöpfe der Menschen. Sie wurden am vierten und fünften Tag geschaffen, der Mensch am sechsten.

Namhafte reformierte Pfarrer des 19. Jahrhunderts setzten sich dafür ein, dass den Tieren Respekt entgegengebracht würde – nicht nur in Predigten, sondern auch in der Gemeindearbeit, mit Vorträgen, Broschüren und auch mal einem Theaterstück. Auch die katholische Kirche etwa mit dem Freiburger Abbé Charles de Raemy förderte den Respekt vor dem Tier.

Die heute anerkannte Philosophie hat ihren Ursprung in den Überzeugungen des «Urwalddoktors» und Theologen Albert Schweitzer (1875 – 1965). Er prägte die Maxime «Ehrfurcht vor dem Leben» und nahm die Güterabwägung vorweg. Wer an Tieren Operationen oder Medikamente versuche, dürfe sich nie damit beruhigen, dass das grausame Tun einen wertvollen Zweck beruhige, nahm Schweitzer zu Tierversuchen Stellung. «In jedem einzelnen Falle müssen sie erwogen haben, ob wirklich Notwendigkeit vorliegt, einem Tier dieses Opfer für die Menschheit aufzuerlegen.» Damit sagte er eigentlich bereits, was heute im Tierschutzgesetz steht.

  

Mathias Wirth sagt grundsätzlich ja – allerdings mit Bedingungen und detaillierten Erklärungen. Der Assistenzprofessor für systematische Theologie und Ethik an der Uni Bern erläutert, Tierversuche könnten als moralisch notwendig bezeichnet werden – wenn keine Alternativen und die Aufmerksamkeit da sind, dass es stark rechtfertigungsbedürftig ist, Tiere als empfindsame Wesen, die unbeeinträchtigt leben möchten, «physisch und psychisch negativ zu betreffen».

Die Verpflichtung in der Hilfsgemeinschaft

«Wir Menschen leben in einer besonderen Hilfsgemeinschaft miteinander», führt Wirth aus und beschreibt dies als Folge der biblischen Selbst- und Nächstenliebe. Wer schon einmal dringende Hilfe brauchte für sich oder einen nahestehenden Menschen, kenne das Gefühl der Erleichterung, wenn diese Hilfe eintrifft – nicht nur bei einem Unfall, sondern auch bei schweren Krankheiten. Das Problem sei die Knappheit von Zeit und Mitteln. Der Theologe nennt einen Vergleich: «Wenn Sie an einem Gewässer stehen, mit nur einem Rettungsmittel, und beobachten, wie gleichzeitig ein Kind und ein Hund ertrinken, sind Sie rechtlich und moralisch wohl dazu verpflichtet, das Kind zu retten. Es wäre für die meisten empörend, wenn Sie anders handelten.»

Man sollte sich nicht daran gewöhnen müssen, dass Tiere leiden.
Mathias Wirth, Assistenzprofessor für systematische Theologie und Ethik an der Uni Bern

Das sage nichts über die Schutzbedürftigkeit des Hundes an sich. Und wir täten sicher auch gut daran, traurig zu sein, dass dem Tier nicht geholfen werden konnte, betont Mathias Wirth. «Doch in unserer Hilfsgemeinschaft können wir uns dem Anspruch nicht einfach entziehen, unserer vielleicht schwer erkrankten Freundin oder dem eigenen Kind zu helfen.» Damit würden wir eine wesentliche Bestimmung des guten Lebens auflösen, sagt Wirth: Gerade denen so effizient wie möglich zu helfen, die leiden und von denen wir erwarten dürften, dass sie im umgekehrten Fall ebenso verfahren.

Nutzung und ihre moralischen Probleme

Den «moralischen Status» von Tieren bezeichnet der Theologe als «grundsätzlich sehr hoch» – und zwar besonders wegen ihrer Leidensfähigkeit und offensichtlichen Nähe zu uns Menschen. Darauf mache bereits die biblische Tradition aufmerksam, sagt Wirth: «Tiere sind eine wichtige Referenz in vielen biblischen Texten, und selbst das Tieropfer ist Ausdruck von etwas Ausserordentlichem. Das impliziert: Im Normalfall ist das Töten von Tieren problematisch.»

Anderseits lebten wir in einer Kultur, in der Tiere behandelt werden, als hätten sie keine Würde: Wir Menschen nutzen sie, züchten sie, handeln und essen sie. So gesehen biete eine Nutzung von Tieren, die sich mit ihren Interessen überschneidet, wirklich moralische Probleme – «ausser in den Fällen erwartbarer klinischer Relevanz und in Fällen, in denen eine Ernährung mit veganen Proteinen aus medizinischen Gründen nicht oder nur teilweise möglich ist».

Mathias Wirth

Mathias Wirth

Der Deutsche ist evangelisch-reformierter Theologe. Seit 2018 ist er Assistenzprofessor für Systematische Theologie/Ethik und Leiter der Abteilung Ethik und Diakoniewissenschaft an der Theologischen Fakultät der Universität Bern.

Kurz gefasst, stellt sich der Theologe Mathias Wirth auf den Standpunkt: «Obwohl der klinische Tierversuch unter den momentanen Gegebenheiten moralisch legitim sein kann, bleibt er hochproblematisch.» Und er bezieht sich noch einmal auf das Beispiel des ertrinkenden Kindes und Hundes. Es wäre fatal, den Blick nur aufs ertrinkende Kind zu richten und alles andere auszublenden. Wirth erachtet es als wichtig: «Man sollte sich nicht daran gewöhnen müssen, dass Tiere leiden.» Denn nur so werde auch Simulationsforschung weiterbetrieben und investiert in digitale Tiermodelle, die schliesslich immer weniger Tierversuche nötig machen sollten.