Recherche 30. November 2023, von Anouk Holthuizen

Ein aufwühlendes Zeitdokument: «Games»

Buch

Der Winterthurer Illustrator Patrick Oberholzer debütiert mit einer eindringlichen Graphic Novel über fünf junge Flüchtende.

Nach dem Lesen dieser Graphic Novel ist das Herz schwer, davor sei bereits gewarnt. Doch zum Glück fällt die Betroffenheit zusammen mit einem Staunen über die enorme Kraft von Menschen, die es auch nach einer ganzen Serie schlimmer Erlebnisse noch schaffen, sich wieder aufzuraffen und weiterzugehen, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. 

«Games» zeigt anhand der Schicksale von vier jungen Männern und einer Frau aus Afghanistan eindrücklich auf, warum Menschen ihre Heimat verlassen und sich auf eine lebensgefährliche Flucht begeben und was sie dabei alles ertragen. 

Reale Geschichten 
Der Winterthurer Illustrator Patrick Oberholzer schuf seinen ersten grafischen Roman mit grosser Sorgfalt. Abwechselnd die Geschichten von fünf Protagonisten vom Moment der Flucht an bis zu ihrer Ankunft in der Schweiz zu erzählen und mittels Infografiken und -texten in einen grösseren Kontext zu setzen, könnte leicht unüberschaubar werden. Doch in «Games» verliert man nicht den Überblick. Unter anderem helfen Landkarten mit den Fluchtrouten. Und die Darstellungen der verschiedenen Gefühlsbäder, die Muhammed, Ziya, Nima, Hamid und Afsaneh erleben, schaffen Nähe zu den einzelnen Charakteren, wodurch sich ihre Erlebnisse gut auseinanderhalten lassen.  

Die Geschichten berühren umso mehr, weil sie real sind. In ausführlichen Gesprächen hatten die fünf Oberholzer erzählt, weshalb sie geflüchtet waren, wie sie ihre Flucht organisierten und wie sich das Ankommen in der Schweiz anfühlte. Die Bildwelten in der Graphic Novel sind eine Fusion aus den Vorstellungen, welche die Erzählungen bei Patrick Oberholzer hervorriefen.

Beim Lesen und Anschauen der Geschichten werden die seelischen und körperlichen Strapazen der Protagonisten deutlich spürbar, etwa als sich Ziya von seiner Mutter verabschiedet. Vergeblich versucht sie ihren Sohn von der Flucht abzubringen und lässt ihn schliesslich, am Boden weinend, ziehen.

Es war oft schwierig zu entscheiden, wie detailliert man diese belastenden Erinnerungen abbildet.
Patrick Oberholzer

Oder als Hamid zum dritten Mal versucht, die Grenze zwischen der Türkei und Bulgarien zu passieren, und auch dieses Mal von Polizisten angehalten wird, die die Flüchtenden verprügeln, ihnen das wenige, was sie haben, wegnehmen und sie zurück in die Türkei bringen.  

Zum Glück mit Happy Ends 
Obwohl die Flüchtenden alle mit Kälte, Hunger und Schmerzen kämpfen, ist es vor allem die brutale Respektlosigkeit, mit der viele sie behandeln, die beim Lesen des Buchs an die Nieren geht. Immer wieder stellt man sich fassungslos die Frage: Wie kann es sein, dass Menschen andere Menschen in so grosser Not dermassen demütigen? Es tröstet etwas, dass die Afghanen immer wieder auf Personen mit Herz stossen.  

Und zum Glück kann man gegen Ende des Buchs aufatmen. Niemand von den fünf ertrank wie Tausende andere Flüchtlinge im Mittelmeer, keiner erfror auf der Balkanroute. Stattdessen haben sie heute Freunde, Arbeit, Wohnungen und vor allem: Perspektiven. 

«Ich wusste nicht, was mich in den Interviews erwarten würde», sagt Patrick Oberholzer. «Es war oft schwierig zu entscheiden, wie detailliert man diese belastenden Erinnerungen abbildet.» Es ist ihm bestens gelungen. 

Patrick Oberholzer: Games. Splitter, 2003, 96 Seiten