Recherche 26. April 2022, von Katharina Kilchenmann

Muss das gespendete Herz von Herzen kommen?

Abstimmung

Wer nicht Nein sagt zur Organspende, sagt Ja. Der Ethiker Frank Mathwig findet diese neue Regelung problematisch. Für die Sozialanthropologin Julia Rehsmann ist sie zumutbar.

Frau Rehsmann, werden Sie nach Ihrem Tod Ihre Organe zur Verfügung stellen?

Julia Rehsmann: Ja, bei einem Hirntod können meine Organe entnommen werden, um Schwerkranken das Leben zu verlängern oder zu ver­bessern. Auch wenn die Wahrschein­lichkeit, dass ich in meinem Leben ein Organ spende, wesentlich kleiner ist, als dass ich eines benötige. Den Spendeausweis trage ich aber nicht bei mir. Wesentlicher scheint mir, dass meine Angehörigen meinen Wunsch kennen.

Herr Mathwig, haben Sie einen Spendeausweis?

Frank Mathwig: Ja, seit vielen Jahren schon. Als ehemaliger Krankenpfleger kenne ich die Not derer, die ein Organ brauchen. Und sie berührt mich. Ich bin nicht gegen die Organspende per se, aber ich kritisiere das politische Vorgehen, wie die Menschen zum Spenden gebracht werden sollen.

Wo sehen Sie denn das Problem?

Mathwig: Es ist ethisch problematisch, wenn zugunsten der Gruppe derer, die auf ein Organ angewiesen sind, der unverzichtbare Schutz der Persönlichkeitsrechte für andere Gruppen aufgegeben wird. Bei der Widerspruchslösung würden alle, die nicht Nein sagen, zu Organspenderinnen und -spendern.

Immerhin haben alle die Möglichkeit, Nein zu sagen.

Mathwig: Wirklich? Was ist mit jenen Menschen, die nicht wissen, dass sie sich äussern müssen, oder die sich nicht äussern können? Etwa Menschen mit schweren geistigen Beeinträchtigungen, mit Demenz oder kleine Kinder. Es braucht eine Regelung, die die Rechte sämtlicher vulnerablen Gruppen schützt.

Julia Rehsmann, 35
Die Sozialanthropologin arbeitet und lehrt an den Universitäten Bern und
Luzern sowie an der Berner Fachhochschule Gesundheit. Julia Rehsmann forscht neben Palliative Care zu den sozialen und existenziellen Faktoren
der Organtransplantation.

Frank Mathwig, 61
Der Theologe und Ethiker arbeitet als Beauftragter für Theologie und Ethik bei der Evangelisch-reformierten
Kirche Schweiz (EKS). Frank Mathwig ist auch Mitglied der Nationalen
Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (NEK-CNE).

Der Anspruch, den Herr Mathwig formuliert, ist auch ein rechtlicher. Laut einem Bundesgerichtsurteil zur Widerspruchslösung muss die Information der Gesamtbevölkerung garantiert sein.

Rehsmann: Tatsächlich besteht das Risiko, dass Menschen zu Spenderinnen oder Spendern werden, die das nicht wollten. Aber es ist so gering, dass es angesichts der Möglichkeit, die Anzahl von Organspenden zu erhöhen, zumutbar ist. Durch das neue Gesetz würde sich zwar der normative Rahmen ändern, aber in der Praxis gilt nach wie vor als oberstes Gebot, den Willen der Patientinnen und Patienten und ihrer Angehörigen zu respektieren. Letztere werden stets einbe­zogen, und im Zweifelsfall werden keine Organe entnommen. Insofern sehe ich es als ethisch zumutbar, sich äussern zu müssen.

Mathwig: Natürlich ist es sinnvoll, die Gabebereitschaft in der Gesellschaft zu aktivieren. Doch mit dem neuen Gesetz schwenkt die Politik um, da es zu wenig Spendeorgane gibt, und appelliert nicht mehr an den Altruismus, die Empathie. Es braucht kein Ja mehr als Akt der Solidarität. Stattdessen wird Schweigen als Zustimmung gedeutet.

Ein grundlegendes Umdenken.

Mathwig: Ja, das stimmt. Auch in der Me­dizin kommt es zu einem Paradigmenwechsel: Bei jeder medizi­nischen Behandlung – die Notfälle ausgenommen – brauchen Ärzte und Ärztinnen heute die ausdrückliche Zustimmung der behandelten Person. Die neue Organspenderegelung wäre ein Rückschritt zu einer paternalistischen Medizin, bei der über die Patientinnen entschieden wird. Das setzt die Ärzte unter Druck. Für die Angehörigen wäre es zusätzlich belastend und nicht, wie behauptet, eine Entlastung.

Tatsächlich, die Widerspruchslösung ist nicht die Lösung aller Fragen. Sonst hätten wir in Europa ja wohl kaum diese rechtliche Vielfalt.
Julia Rehsmann, Sozialanthropologin

Die Erfahrung in anderen Ländern zeigt, dass die Widerspruchslösung nicht zu mehr Organspenden führt.

Rehsmann: Tatsächlich, die Widerspruchslösung ist nicht die Lösung aller Fragen. Sonst hätten wir in Europa ja wohl kaum diese rechtliche Vielfalt. Es braucht Strukturen in den Kliniken und vor allem Personal, das ausgebildet ist, potenzielle Organspendende zu erkennen. Leute, die geschult sind, diese herausfordernden Gespräche mit Angehörigen zu führen und das «System» Organspende mittragen. Doch es geht bei der Transplantationsmedizin nicht bloss um die Anzahl Organe, die zur Verfügung stehen, oder um individuelle Freiheitsrechte, die gewahrt werden müssen, auch nach dem Hirntod. Das Spektrum an Themen ist sehr breit, und viele gesellschaftliche und medizinethische Fragen kommen in der Debatte oft zu kurz.

Welche Themen kommen zu kurz?

Rehsmann: Etwa, dass die Zeit vor und nach einer Transplantation für die Patientinnen und Patienten, ihre Angehörigen und die Pflegenden sehr anspruchsvoll ist. Dass chronische Krankheiten durch ein neues Organ nicht einfach geheilt sind, sondern eine lange Zeit der Therapie folgt. Auch gibt es nicht nur Erfolgsgeschichten: Nicht alle Herztransplantierten werden nochmal Spitzensportler. Es ist ein sehr komplexes Thema, bei dem es um Leben, aber eben auch um Tod geht.

Für viele der Organempfängerinnen und -empfänger ist es elementar wichtig, dass die Spende freiwillig ist.
Frank Mathwig, Theologe, Ethiker

Beeinflusst denn die Transplanta­tionsmedizin unser Verhältnis zum Leben und zum Tod?

Rehsmann: Das ist so, medizinische Fortschritte können zur überhöhten Erwartung führen, dass der Tod immer aufgeschoben und medizinische Möglichkeiten immer ausgeschöpft werden müssen. Doch der Anspruch «weil etwas möglich ist, steht es mir auch zu» ist eine Fehleinschätzung.

Mathwig: Trotzdem ist es legitim, wenn todkranke Menschen um ihr Überleben kämpfen. Sie haben das Recht, medizinisch sinnvolle Massnahmen einzufordern, auch wenn sie kein Recht auf deren Erfolg haben. Aber für viele der Organempfängerinnen und -empfänger ist es elementar wichtig, dass die Spende freiwillig ist. Mit der Widerspruchslösung ist das nicht garantiert. Ein gespendetes Organ kann von einer Person kommen, die der Explantation zugestimmt hat oder die nicht wusste, dass sie sich hätte äussern müssen. Oder die sich nicht äussern wollte. Ob ein Herz also von Herzen kommt, ist unklar.

Frau Rehsmann, sind Ihnen bei Ihren Recherchen zur Organtransplantation Unterschiede bei der Argumentation in den verschiedenen Religionen begegnet?

Rehsmann: Die Pro- und Kontra-Argumente, die wir im Christentum finden, gibt es auch in anderen Religionen. Entscheidend ist weniger die Religion als die Frage, ob es ein funktionierendes Gesundheitssystem gibt und damit auch eine Infrastruktur für Transplantationsmedizin. In Ägypten beispielsweise ist die Gesundheitsversorgung sehr schlecht, und in der politischen Debatte herrscht die Kritik an der Organtransplantation vor. Gleichzeitig blüht dort der Organhandel wie in kaum einem anderen Land.

Änderung im Trans­plantationsgesetz
Bundesrat und Parlament wollen bei der Organspende die Widerspruchs­lösung einführen. Wer nach seinem Tod keine Organe spenden will, soll dies neu festhalten müssen. Dagegen wurde das Referendum ergriffen. Laut
dem Komitee gäbe es mit dem neuen Gesetz Personen, die nicht wissen, dass sie ihren Willen kundtun müssen. So würde hingenommen, dass Menschen gegen ihren Willen Organe entnommen werden. Die Volksabstimmung findet am 15. Mai statt.