Recherche 24. Juni 2015, von Reinhard Kramm

Der Engel könnte einsam werden

Susch

Regionaler Kirchenbegegnungstag in Susch zum 500-Jahr-Jubiläum der Kirche San Jon. Deren Geschichte ist speziell.

Der Inn tobt. Er ist grau und voller Schwemmholz. Wer zur Kirche von Susch gelangen will, muss ihn überqueren. Auf der anderen Seite ducken sich eine Handvoll alter Engadinerhäuser zwischen Hügeln und den donnernden Fluten. Unter ihnen ist die Kirche San Jon. Ihre Geschichte ist ungewöhnlich.

Innerkirchlicher Disput. Denn kaum war die Kirche 1515 fertiggestellt, da diente sie über Neujahr 1537/38 als Ort für einen innerkirchlichen Disput. Es ging bei der ersten Disputation von Susch um die Frage, ob Laien im Notfall Kinder taufen können. Anlass gab der Grossvater eines schwächlichen Kindes. Weil kein Pfarrer vor Ort war, hatte er es kurzerhand selbst getauft. Auf der Disputation beschlossen die anwesenden Theologen und Politiker, dass Taufen in der Regel durch Pfarrer vorgenommen werden sollen, bei deren Fehlen durch die Hebamme, im Notfall durch Laien. «Es waren lokale Streitfragen, die aber zu einem regionalen Event wurden», beurteilt Kirchenhistoriker Jan-Andrea Bernhard die Bedeutung der Disputation. Sie beflügelte die Reformation. Sechs Jahre später wurde sie in Susch eingeführt.

Ein Jahrhundert später wurden alle reformierten Gottesdienste verboten. Die Kirche Susch blieb im Zeitalter der Gegenreformation angeblich nur deshalb vor Brandstiftung verschont, weil im Nachbargebäude die Kapuzinermönche eine Brauerei betrieben. Jahrzehnte der Bündnerwirren brachten der Unterengadiner Bevölkerung Not, Pest, fremde Heere und eine mehrheitlich nicht gewollte Konfession.

Überkirchliche Gemeinschaft. «Zu uns kamen damals nicht Katholiken, sondern die Tiroler», sagt Hermann Thom mit einem Schmunzeln. Der Kirchgemeindepräsident hat zum 500-Jahr-Jubiläum der Kirche Susch ein grosses Fest auf die Beine gestellt. Das solle, so sein Anliegen, die Gemeinschaft in der Region feiern und nicht etwa die Unterschiede. Der Gottesdienst wird durch eine reformierte, katholische und freikirchliche Pfarrperson bestritten. Das Musikprogramm ist mit Klassik, Rap und Pop auf Jüngere wie Ältere ausgerichtet. Und kulinarische Angebote stellen die Dorfvereine der neu fusionierten Gemeinde Zernez parat.

«In jeder Familie finden sich heute gemischte Konfessionen», sagt Hermann Thom und tritt dem Bild des einheitlich reformierten Engadin entgegen. In Susch etwa läge das Verhältnis reformiert zu katholisch bei zwei Drittel zu einem Drittel.

Ein kleiner Engel an der Empore gibt sich trotzig: In einer Hand hält er die Bibel, mit der anderen zeigt er nach oben. «Allein die Bibel zählt» demonstriert seine Haltung, das Motto der Reformation. Nur: Der Engel ist ein Nachzügler. Er kam erst um 1742 in die Kirche, als Orgel und Empore im Stil des Barocks eingebaut wurden. Am Begegnungstag könnte er sich mit seiner traditionellen Haltung eher einsam fühlen.

Programm Kirchenfest

10.00 Uhr. Ökumenischer Gottesdienst. Pfarrpersonen Annette Jungen, Krzysztof Malinowski und Richard Furter. Musik Christa Pinggera, Orgel, Cor masdà Zernez und Musica Zernez.

11.00 Uhr. Apéro im Garten der Tuor Planta Susch mit kurzem Konzert der Società da musica Susch.

12.00 Uhr. Mittagessen im Festzelt am nahen Dorfrand. Dorfvereine der neu fusionierten Gemeinde Zernez

13.30 Uhr. Konzert Adam's Wedding im Zelt

14.30 Uhr. Konzert Stego im Zelt

15.30 Uhr. Konzert 4 for you in der Kirche

16.00 Uhr. Concert Classic in der Kirche