Recherche 26. Juli 2017, von Katleen de Beukeleer

Der Fremde, der rasch zum Freund wurde

Integration

Jathurshan Premachandran liess sein Leben weder von seiner persönlichen Tragödie noch von Vorurteilen bestimmen. Heute gilt der gebürtige Tamile als Vorbild.

Jathurshan Premachandran sitzt im Zug von Baden nach Aarau. Als er auf dem Perron in Wildegg einen Mann im Edelweisshemd sieht, sagt er: «So ein Hemd trug ich letzten Monat auch!» Er zückt sein Smartphone und zeigt die Bilder: Er und Pascale Bruderer auf einer Bühne in Bern, beide in Edelweissoutfit. Beim Flüchtlingstag schwangen sie zusammen die Schweizer Fahne. «Auch wir können das», lacht der 32-jährige Tamile.

Ein schlimmer Tag. Premachandran ist immer an vorderster Front dabei, wenn es um die Belange von Geflüchteten geht. Unter anderen hält er im Auftrag der Schweizerischen Flüchtlingshilfe Vorträge über das Schweizer Asylwesen, erzählt über sich und über den schlimmsten Tag seines Lebens. Es war der 23. August 2005. Der 20-jährige Premachandran war Journalist einer tamilischen Zeitung. Er wollte über eine Demonstration in der sri-lankischen Hauptstadt Colombo berichten. Doch man verdächtigte ihn, den «Tamil Tigers» anzugehören, die während des Bürgerkrieges in Sri Lanka mit Gewalt für die Rechte der tamilischen Minderheit kämpften. Die Polizei nahm den Journalisten fest und brachte ihn in ein Gebäude, das er aus den Medien nur allzu gut kannte: Das Foltergefängnis. «Ich war mir sicher, dass ich nicht mehr lange zu leben habe», erinnert er sich. Doch unter Druck von Journalistenorganisationen kam er frei. Premachandrans Zeitung aber stand weiterhin unter Verdacht, mit den «Tamil Tigers» zu kooperieren. Während der junge Mann sich zu Hause von den Misshandlungen erholte, wurde eine Granate auf die Hauptzentrale seiner Zeitung geworfen. Zwei Arbeitskollegen kamen ums Leben.

Brücken bauen. Der Zug kommt an in Aarau. Der Bahnhof ist einer von Premachandrans Arbeitsplätzen: Er ist Ansprechperson der Stadt Aarau für die vielen jugendlichen Asylsuchenden, die sich im öffentlichen Raum aufhalten. Wenn Wissen über das System in der Schweiz fehlt, versucht er als Jugendarbeiter zu informieren, Vertrauen aufzubauen und Brücken zu bauen.

Der Aarauer Bahnhofsplatz machte Schlagzeilen als Hotspot für Alkohol trinkende Eritreer. Premachandran: «Es geht um eine Handvoll Leute.» Die oberflächliche Berichterstattung beeinflusse die Wahrnehmung der Öffentlichkeit. «Wenn Medienberichte eine Situation verschlimmern», sagt er, «dann liegt das mit in der Verantwortung der Journalisten.» Diese Verantwortung trug er als Journalist selber auch. Die Anschläge auf die Zeitungszentrale waren für ihn umso mehr ein Grund, weiterhin über die Missstände in seinem Land zu berichten. Doch gleichzeitig hatte er Angst, und auch seine Eltern konnten nicht mehr schlafen. Ein Jahr später beantragte Premachandran Botschaftsasyl.

Die ersten Monate in der Schweiz seien furchtbar gewesen. Keine Verwandten, keine Deutschkenntnisse, und immer nur Informationen aus zweiter Hand von Flüchtlingen, die es selber auch nicht genau wussten. Und dann diese «Spaghetti mit Tomatensauce. Ohne Scharf!» Doch der B-Ausweis kam schnell, der Tamile fand eine Wohnung in Baden. Dort schlug ihm der Sozialdienst vor, möglichst schnell einen Job in der Gastrobranche zu suchen. «Dieser Vorschlag war so mit Vorurteilen behaftet. Es stimmt, dass hier viele Tamilen in der Gastrobranche arbeiten. Aber warum ich?» Stattdessen ging er studieren. Mittlerweile hat Premachandran einen respektablen Bekannten- und Freundeskreis aufgebaut. Acht Schweizer Freunde waren schon bei seinen Verwandten in Sri Lanka zu Besuch. «Es schmerzt sehr, dass ich meine Familie nie sehen kann», sagt Premachandran leise. Er darf und will nicht nach Sri Lanka reisen: zu gefährlich. «Es tut meinen Eltern aber gut, über meine Freunde zu erfahren, wie es mir geht.»

Wiedervereinigung. Im September werden die Eltern nochmals Besuch bekommen. Premachandran strahlt: «Meine Freundin wird drei Wochen lang dort bleiben.» Er habe daran gezweifelt, ob die Eltern seine grosse Liebe akzeptieren würden, denn sie ist Schweizerin. Doch seine Eltern hätten seine Schweizer Freunde als besonders sympathisch und unkompliziert empfunden. «Das hat ihre Vorurteile verschwinden lassen.» Nächsten Sommer folgt die Hochzeit. Zuerst nach reformierter Tradition in der Schweiz, und dann nach Hindu-Brauch in Indien. Dort wird Premachandran endlich wieder mit seinen Brüdern und Eltern vereinigt sein. Ein paar Tage, zumindest.

Podium. Jathurshan Premachandran nimmt am 7. September 2017 an einem Podiumsgespräch mit Regierungsrat Urs Hofmann und Kirchenratspräsident Christoph Weber-Berg teil (17.15 Uhr, Aarg. Gebäudeversicherung, Bleichemattstr. 12/14, Aarau).

Jathurshan Premachandran, 32

2008 flüchtete er in die Schweiz. Heute arbeitet er als Kursleiter bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, als aufsuchender Jugendarbeiter für Asylsuchende und als interkultureller Dolmetscher und Asylbetreuer. Premachandran ist Hindu, aber nicht praktizierend. Baldwird er ein berufsbegleitendes Studium in Sozialer Arbeit absolvieren.