Am Dorfbrunnen putzt ein alter Mann ein paar Bergschuhe. Gegenüber schüttelt eine Frau die Decke aus. In Brienz scheint die Welt in Ordnung zu sein. Doch der Schein trügt. Einige der rund hundert Einwohner überlegen sich, das Dorf im Albulatal für immer zu verlassen. Andere haben es bereits getan. Zum Beispiel die englische Familie, die bis vor Kurzem das ehemalige Pfarrhaus bewohnte. Der Grund: Der Boden des sonnig gelegenen Dorfes bewegt sich – und zwar schneller, als von Experten bisher berechnet.
Schutz vom heiligen Calixtus
Ein Beweis, dass die Siedlung auf einem Erdrutschgebiet liegt, ist der schiefe Kirchturm. Ende 1878 zerstörte ein Erdbeben die Strasse und bewegte den Turm. Hätte er, wie die meisten Häuser, in der Mulde der Hangterrasse am Fusse des Piz Linard gestanden, wäre der Schaden wohl grösser gewesen. Aber die Kirche steht auf einem Felssporn. In der Nähe, das Haus des Messmers und Kirchgemeindepräsidenten Hermann Bossi. «Die Natur raubt mir nicht den Schlaf», sagt Bossi, «der heilige Calixtus ist unser Beschützer.» Der Namensgeber der katholischen Pfarrkirche von Brienz ist auch auf einer der Kirchglocken verewigt: «Lubrica saxa manu retine caliste potenti! Atque tuere tuum sancte patrone locum.» Zu Deutsch: «Durch deine mächtige Hand, Calixtus, halte zurück die schlüpfrigen Felsen und beschütze, heiliger Patron, diesen Ort.»
Doch seit den jüngsten Felsstürzen machen sich Hermann Bossi und seine Vorstandskollegen Sorgen um die Zukunft des wertvollen Kircheninventars. Sollte es in Brienz zu einer Grossevakuierung kommen, müsste vorher der Kirchenschatz in Sicherheit gebracht werden. Zur Diskussion steht das alte Munitionsdepot der Armee ausserhalb des Dorfes. «Wir klären die Kosten und Möglichkeiten eines Transportes ab», sagt Bossi.
Aus süddeutscher Werkstatt
Der Schatz der Pfarrkirche St. Calixtus in Brienz ist ein spätgotischer Flügelaltar, wahrscheinlich aus der Werkstatt des Memminger Bildhauers Ivo Strigel. Gemäss dem Kunsthistoriker Marc Antoni Nay gehört der Anfang des 16. Jahrhunderts errichtete Schrein zu einem der schönsten Europas. «Das Gesprenge, der geschnitzte Aufsatz über dem Altar, ist kunstvoller als das der Kathedrale in Chur.» Wie viele Bündner Dörfer legte auch Brienz im 15. Jahrhundert Wert auf ein eigenes Gotteshaus mit eigenem Pfarrer.
Spätgotische Flügelaltäre, wie jener von Brienz, stehen laut Nay für das Kollektiv der Dorfgemeinschaft. Der kostbare Kirchenschmuck war häufig eine Stiftung der Gläubigen selbst, die im Mittelalter durch den Handel zwischen Deutschland und Italien via Septimer- und Julierpass zu Wohlstand kamen. Unter den üppig geschwungenen Türmchen, ineinander verschlungenen Pflanzenranken und baldachinartigen Bögen bevölkern Heilige die Flügelinnenseiten, den Schrein und den Sockel.
Kollektiv und Individualität
Dem damaligen Trend folgend, gleichen sich die Gesichter der Frauen. «Dies entsprach dem Empfinden von der Kollektivgesellschaft», erklärt Nay, «der Mensch ist Teil der Kirche und die Kirche sorgt für ihn.» Die männlichen Köpfe hingegen weisen eigene Charakterzüge auf, einen staunenden offenen Mund beispielsweise oder ein zweifelnd geneigter Kopf. «Die Renaissance entdeckt den Individualismus», sagt der Kunsthistoriker.
Gemäss Nay erwachte damals in Graubünden ein neues Selbstbewusstsein. Man strebte die Unabhängigkeit vom Bischof und von den Feudalherren an. «Kaum ein Land Europas hatte damals eine ähnlich starke Gemeindeautonomie wie der Freistaat der Drei Bünde», so Nay.
Flügelaltäre wie in Brienz gibt es in mehreren Kirchen Graubündens. Manche sind bereits in Museen abgewandert. «Sollte es jemals nötig sein, wäre ein Platz in einem Museum für den Brienzer Flügelaltar die zweitbeste Lösung», meint Nay, «die Wirkung wäre allerdings nicht mehr dieselbe.»