Menschen mit Alzheimer-Demenz tauchen im Verlauf der Krankheit in immer ältere Erinnerungen ein. Sie kennen nicht mehr ihre Kinder, aber Gedichtzeilen aus der Schulzeit. Warum ist das so?
Dan Georgescu: Das sind komplexe Vorgänge, über die noch nicht alles bekannt ist. Grob zusammengefasst: Durch das Absterben von Nervenzellen in diversen Hirnbereichen werden Erinnern sowie auch Denken und Planen zunehmend beeinträchtigt. Früh betroffen ist der Hippocampus, der eine zentrale Rolle bei Gedächtnisfunktionen spielt. Deshalb kann das erkrankte Gehirn irgendwann kaum noch neue Inhalte speichern. Alte Erinnerungen, insbesondere wenn sie mit Emotionen verknüpft sind, sind hingegen verlässlich gespeichert.
Kann man Alzheimerpatienten überhaupt behandeln, unterstützen?
Eine Heilung ist nicht möglich. Das heisst nicht, dass sich nichts mehr machen lässt. Es gibt verschiedene Mittel, um die Situation und die Lebensqualität der Kranken und die ihrer Angehörigen zu verbessern. Eine enorm wichtige Rolle spielt eine konstruktive Kommunikation.
Ich habe oft erlebt, dass Angehörige ungeduldig reagieren, wenn ihr Partner oder ein Elternteil Ereignisse und Namen durcheinanderbringt.
Das ist so. Doch es bringt nichts, die Aussagen zu korrigieren. Auch nicht dann, wenn jemand in negativen Aussagen verharrt oder Vorwürfe macht – was oft geschieht. In solchen Momenten ist es viel besser, das Thema zu wechseln und zum Beispiel zu sagen: «Draussen ist es schön, machen wir einen Spaziergang!» Auch wenn mich meine Partnerin plötzlich nur noch Stefan statt Dan nennt, muss ich das aushalten. Die Abbauprozesse des Gehirns verursachen unter anderem, dass Demenzbetroffene Gesichter nicht richtig zuordnen können.
Es tut weh, wenn eine geliebte Person einen nicht mehr erkennt.
Natürlich, doch es lässt sich nicht ändern. Wollen Sie einen sinnlosen Konflikt oder die Situation entspannen? Da muss man pragmatisch sein. Es ist für beide wichtig, Konflikte zu vermeiden und auf noch vorhandenen Fähigkeiten aufzubauen. Sonst gibt es nur Verlierer.
Wie gelingt es einem Angehörigen, der Situation angemessen zu kommunizieren?
Das ist eine Frage der Schulung. Angehörige von Demenzpatienten werden bei uns in den PDAG gut durch die Mitarbeitenden der Stationen und der Memory Clinic informiert. Angehörige müssen Experten werden im Umgang mit kranken Partnern oder Eltern. Es ist zum Beispiel wichtig, wie man spricht: mit einfachen Sätzen, die von Gesten unterstützt werden. Viele Konflikte kommen daher, dass Demenzbetroffene nicht nachvollziehen können, was der andere sagt. Auch emotional heikle Geschichten sollte man generell nicht ansprechen.
Immer gelassen zu bleiben, fällt aber vielen Angehörigen schwer.
Weil sie vieles über die Gründe der Situation und die optimale Kommunikation nicht wissen und oft unnötig leiden. Darum ist es wichtig, sich über die richtige Kommunikation zu informieren.
Was hilft noch, das Wohl eines Demenzbetroffenen zu fördern?
Ganz wichtig ist eine gewohnte Umgebung: vertraute Menschen, vertrautes Mobiliar, Essen, Musik – alles, was dem Betroffenen bekannt ist, gibt ihm Halt. Zudem benötigt die Person Unterstützung bei der Orientierung und der Bewegung.
In der älteren Generation sind viele religiös geprägt aufgewachsen. Können Rituale so ein Anker sein?Ja. In den Niederlanden gibt es eine Art Dorf mit unterschiedlichen Lebenswelten für Menschen mit Demenz. Diese charakterisieren sich durch Angebote, Einrichtung, Musik und Essen. Es gibt Wohnbereiche für urbane, kulturaffine Menschen, für handwerklich geprägte Personen oder auch ein indonesisches Quartier. Eine Lebenswelt ist für fromme, christliche Menschen gestaltet. Bei gläubigen Menschen können religiöse Identifikationen positive Effekte haben. Grundsätzlich geht es immer darum, Vertrautheit und Geborgenheit zu schaffen.
In vielen Pflegezentren beschränkt sich das Vertraute der Bewohner auf Mobiliar, das sie mitgenommen haben. Im Heim, in dem mein Vater lebte, wurde im Aufenthaltsraum zumeist Ländler gespielt. Er, der lieber Elvis hörte, litt darunter.
Es wird schwierig, wenn man eine bestimmte Lebenswelt anderen aufoktroyiert. Darum ist es ganz wichtig, dass man über eine Person mit Demenz viel weiss: über ihre Biografie und Gewohnheiten. Das hilft, einen Komfort herzustellen. Idealerweise wird dies berücksichtigt, die Heime machen dies allerdings ganz unterschiedlich.
Wird die Biografie bei Heimeintritten erfasst?
Das handhabt jedes Zentrum autonom. Es wäre für das betreuende Personal jedenfalls von enormer Bedeutung zu wissen, was einen Menschen geprägt hat. Ob jemand ein Leben lang im Kirchenchor sang oder auf der Harley Davidson über Pässe bretterte. Ich habe mir in ganz Europa Institutionen angesehen. Die Niederlande und Schweden sind diesbezüglich am fortschrittlichsten.
Viele haben Angst, dement zu werden. Sie auch?
Ich kann mich normalerweise nicht an meine Träume erinnern, aber ein unangenehmer kommt immer wieder: dass ich bemerke, dement zu werden, und dass ich die auftretenden Gedächtnislücken zu bewältigen versuche. Manche Menschen gleiten in die Demenz hinein und merken es nicht. Ich gehöre wahrscheinlich zu jenen, die es realisieren würden, auch weil ich darauf spezialisiert bin.
Die meisten fürchten sich auch vor dem Verlust der Autonomie.
Autonomie ist für uns alle zunehmend wichtiger. Ich für mich würde schauen, dass ich das Mögliche machen würde, um gesund zu altern. Zudem würde ich – wenn auch nur monatsweise – zurück in meine Heimatstadt Bukarest, in eine Umgebung, die mir passt und vertraut ist. Ich lebe seit über 30 Jahren sehr gern hier, aber das kulturelle Umfeld meiner Kindheit und Jugend gibt mir eine andere Geborgenheit.
In Ihrem Beruf sprechen Sie mit Hunderten alten Menschen. Was zählt im Leben?
Viele erzählen mir, was sie im Leben hätten anders machen sollen. Als Alterspsychiater habe ich dadurch eine andere Perspektive auf das Leben gewonnen. Mich selbst leiten Sätze von zwei Athenern aus der Antike. Der eine ist der weise Solon, der sagte: «Wird auch silbern mein Haar, so lern ich immer noch vieles.» Der andere ist vom Staatsmann Perikles: «Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit, das Geheimnis der Freiheit aber ist der Mut.» Sehr viele Patienten sagen mir, sie bereuten, nicht den Mut gehabt zu haben, sich selbst treu zu bleiben. Das werde ich hoffentlich selbst nicht sagen müssen.