Recherche 11. April 2017, von Christa Amstutz Gafner

Die Angst der französischen Kirchen vor Marine Le Pen

Wahlen

Bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich bleibt ein Sieg von Marine Le Pen vom Front National möglich. Die protestantischen Kirchen warnen vor ihr.

Noch nie war der Ausgang einer Präsidentschaftswahl in Frankreich so unvorhersehbar wie jetzt. Das klassische System mit der Sozialistischen Partei auf der Linken und den Republikanern auf der Rechten wankt, das Vertrauenin die Politik ist schon seit Längerem auf dem Tiefpunkt. Unter dem Eindruck der Umfrageschlappen bei Brexit und Trump sind die Meinungsforscher eher vorsichtig mit Prognosen. Auch die Kandidaten machen es ihnen schwer. Es gibt überraschende Aufsteiger wie den wirtschaftsliberalen Emmanuel Macron von der Bewegung «En marche» und über Skandale gestrauchelte Favoriten wie den rechtskonservativen François Fillon. Angesichts der schwachen Linken bleibt nebst den beiden nur eine Favoritin: Marine Le Pen. Jetzt schon scheint klar, dass die Chefin des rechtsextremen Front National nach dem ersten Wahlgang am 23. April in die zweite Runde ziehen wird.

GegenPolitikverdrossenheit. «Eine Präsidentin Le Pen wäre katastrophal», sagt Jean-Paul Willaime, Soziologe und Verwaltungsratspräsident der protestantischen Wochenzeitung «Réforme».Zwar deute vieles darauf hin, dass sie es nicht schaffe. Was Willaime aber angesichts der verbreiteten Politikverdrossenheit fürchtet, ist eine niedrige Wahlbeteiligung. Und Szenarien wie dieses: Im zweiten Wahlgang vom 7. Mai tritt statt dem Newcomer Macron der angeschlagene Fillon gegen Le Pen an. «Viele könnten sich dann der Stimme enthalten, weil sie nicht bereit sind, das kleinere Übel zu wählen», so der Soziologe.

Die protestantischen Kirchen engagieren sich stark in den Präsidentschaftswahlen. Immer wieder melden sich Kirchenverantwortliche zu Wort. Empfehlungen für Kandidaten oder Parteien geben sie keine. Aber sie sagen klar und deutlich, wer auf keinen Fall gewählt werden sollte: Marine le Pen. «Die Poli­tik des Front National ist unvereinbar mit den Werten des Evangeliums», sagt François Clavairoly, Präsident des Evangelischen Kirchenbunds von Frankreich. Die Partei schüre Angst und Rassismus, stehe für Abschottung und Ausschluss. Unermüdlich wirbt der Reformierte dafür, die Politik kritisch zu begleiten, statt sich von ihr zu verabschieden. So hat sich der Kirchenbund mit zehn Fragen an die Kandidaten gewandt und sie eingeladen, diese an einem Hearing zu beantworten. Macron und Fillon haben ihre Position zu Themen wie Umgang mit Flüchtlingen und Behinderten, Perspektiven für die Jugend, Sicherheit, Justizvollzug oder Laizität schon dargelegt.

DerfrommeKatholik. Trotz des Engagements der Kirchenleitungen, auch katholischerseits, ist klar: Auch unter den eigenen Mitgliedern gibt es Front- National-Wähler. Clavairoly schätzt sie bei den Protestanten eher als Minderheit ein, weiss aber auch:«Keine Konfession ist gefeit vor der rechtspopulistischen Versuchung der einfachen Rezepte.» Eine Umfrage der Zeitung «Réforme» vor den letzten Präsidentschaftswahlen von 2012 zeigte: Der Anteil an Front-National-Wählern war bei den Protestanten zwar niedriger als im Durchschnitt, aber er hatte zugenommen gegenüber 2007.

Insgesamt kam der Soziologe Wil­laime damals zum Schluss: Katholiken und unter den Protestanten vor allem die Evangelikalen wählen etwas häufiger rechts als der Durchschnitt der Bevölkerung. Auch jetzt war in konservativen kirchlichen Kreisen der Republikaner Fillon der grosse Favorit – bevor er über die Scheinbeschäftigungen von Familienmitgliedern stolperte. Fillon hatte sich als gläubiger Katholik geoutet, im stramm laizistischen Frankreich eine Besonderheit. Und so weckte er Hoffnungen auf eine Zukunft, in der die Kirche wieder im Dorf steht. Wie viele Stimmen aus diesen Milieus jetzt noch an Fillon gehen oder an wen statt ihn, ist eine der vielen Unwägbarkeiten.

WichtigeSozialwerke. Im Wahlkampf fällt auf: Die Protestanten machen in Frankreich gerade mal drei Prozent der Bevölkerung aus, sind aber in der Öffentlichkeit erstaunlich präsent. «Der Protestantismus wird als modern und sozial engagiert wahrgenommen», erklärt Jean-Paul Willaime. Vor allem die kirchlichen Sozialwerke geniessen hohe Anerkennung. Zum Reformationsjubiläum haben diese, analog zu Luthers Thesen, «95 soziale Thesen» veröffentlicht. Denn es gibt viel zu tun im Land. Darauf weist auch der Erfolg des Front National hin.

Kirchenbundspräsident François Clavairoly sagt: «Würde Marine Le Pen Präsidentin, müssten wir all unsere Kräfte mobilisieren.» Dann gälte es, sich umso mehr einzusetzen für Menschlichkeit und Solidarität.

Protestanten in Frankreich

Im Evangelischen Kirchenbund Frankreichs, der Fédération pro­testante de France (FPF), sind Lutheraner und Reformierte, aber auch Methodisten, Baptisten und viele andere evangelikale Kirchen zusammengeschlossen. Der FPF vertritt zwei Drittel der Protestanten in Frankreich.