Die Taube schaut das Ewige – Gedanken zu Allerheiligen

Kloster

Am 1. November feiern katholische Kantone Allerheiligen. Ein Besuch im Kloster Ilanz verdeutlicht: Die Spannung zwischen Ewigkeit und Vergänglichkeit steht dabei im Zentrum.

Das Hochfest zu Allerheiligen beginnt schon am Abend des 31. Oktobers. Etwas mehr als 50 Schwestern versammeln sich um halb sechs in den Bänken der Klosterkirche in Ilanz zur Vesper am Vorabend des hohen katholischen Feiertages. Sie sitzen auf drei Seiten um den vom Zürcher Künstler Alfred Huber in weissem Cristallina-Marmor gestalteten Altarraum, singen Kirchenlieder, sprechen Psalmen in Kehrversen und nehmen die in den letzten Jahrzehnten an diesem Tag verstorbenen Ordensschwestern in ihre Fürbitten auf.

Zwölf bewusst schlicht bis naiv gehaltene Kirchenfenster verleihen dem modernen, schlohweissen Raum Atmosphäre. Das Licht, das durch die Glasfenster fällt, zieht bunte Spuren in den weissen Nischen des modernen Baus, der von Le Corbusiers Bauten inspiriert ist. Der Bilderzyklus aus zwölf Bildern des Zürcher Künstlers Max Rüedi bietet Gelegenheit, die bedeutendsten Themen des christlichen Glaubens zu meditieren – vom Paradiesbaum bis zur Vollendung im Tod.

Andenken an «vollendete» Verstorbene

Wenn die Schwestern betend und feiernd zusammenkommen, nehmen sie in ihren «Herzen das mit, was Menschen uns in ihren Nöten und Ängsten anvertraut haben, wie auch das grosse menschliche Elend, verursacht durch Katastrophen und Kriege». So steht es auf ihrer Webseite. Im angelsächsischen Raum ist heute Hallow-ween, der Heiligen Vorabend («all hallows eve»); der auch bei uns immer populärere, heidnisch anmutende Brauch bezieht sich also ursprünglich auf die Heiligenverehrung am 1. November. Denn das ist der eigentliche Sinn dieses Festtages bei den Katholikinnen und Katholiken; an Allerheiligen denjenigen Schwestern und Brüdern zu gedenken, die zuvor schon in Christus «zur Vollendung gelangt sind».

Am Anfang dieser uralten Tradition stand das Bedürfnis, die christlichen Märtyrer zu ehren, die für ihren Glauben gestorben waren. Mit den irischen Missionaren breitete sich im 9. Jahrhundert nicht nur das Christentum über Westeuropa aus, sondern auch der Brauch, das Heiligengedächtnis zum Anfang des keltischen Jahres am 1. November zu begehen. Der Tag ist allen Heiligen geweiht, den bekannten und unbekannten, den regionalen wie auch jenen von weltweiter Berühmtheit. Viel wichtiger als eine päpstliche Heiligsprechung ist an diesem Gedenktag also ein lauterer Lebenswandel.

Du wolltest vom Tod gefesselt werden, um uns von den Fesseln des Todes zu befreien.
Aus der Dominikanischen Liturgie in der Karwoche.

Gute Taten führen zur Vollendung

Der Heilige Dominikus (1170 - 1221) ist der Ordensgründer der Dominikanerinnen von Ilanz. Vor 1002 Jahren begründete er im Auftrag des Papstes den ersten Frauenkonvent in Rom. Er gilt als Pionier der Seelsorge, sein Dominikanerorden diente als Vorbild für alle nachfolgenden Ordensgründungen mit seelsorgerischem Ziel. Von seinen Ordensleuten verlangt er v.a. Besitzlosigkeit und genaues Studium der heiligen Schrift. Bereits 13 Jahre nach seinem Tod wurde er heilig gesprochen, und seither wird an Allerheiligen auch seiner gedacht.

Am 1. November kontrastiert die Ewigkeit des Wirkens der Heiligen mit der in der Natur allseits sichtbaren Vergänglichkeit des Herbstes. In der Mitte des Klosterhofes, neben dem plätschernden Brunnen mit sieben Schalen leuchtet ein Ahorn knallrot, bald wird er seine Blätter abwerfen. Die Dominikanerinnen zu Ilanz verfolgten von Anfang an einen seelsorgerischen, christlichen Auftrag. Denn die Surselva, das Tal am Bündner Vorderrhein, galt noch bis ins 20. Jahrhundert hinein als ein Armenhaus der Schweiz.

Seelsorge, geistliche Begleitung und Krankenpflege

Bevor die Schwestern kamen, existierten im 19. Jahrhundert weder eine gute medizinische Versorgung noch eine Armenfürsorge oder Schulen. Die Ilanzer Schwesterngemeinschaft, die sich damals «Gesellschaft von der göttlichen Liebe» nannte, eröffnete in Ilanz im Jahr 1865 die Institutsschule sowie 1868 das Spital Ilanz. Die Schule sollte vor allem Mädchen und junge Erwachsene ausbilden, und das Spital die professionelle Behandlung von Kranken in der Surselva ermöglichen. Der Begründer der Ilanzer Gemeinschaft war ein Einheimischer, der die soziale Not lindern wollte: der Jesuit und Priester Johan Fidel Depuoz.

Zu ihren besten Zeiten gehörten den Ilanzer Dominikanerinnen über 500 Schwestern an, heute sind es immerhin noch rund 80. Viele von ihnen sind jedoch hochbetagt, das Kloster Ilanz ist nicht nur im übertragenen Sinn ein Alters- und Pflegeheim. Die Schwestern führen daneben in ihren Räumen ein Tagungs- und Bildungshaus und bieten dort auch geistliche Begleitung, Time-Outs und Exerzitien an. Auch heute noch erfüllt die Schwesterngemeinschaft auch vielfältige seelsorgerische Aufgaben.

Beistehen im Verlust

Zum Beispiel können jeden ersten Mittwoch im Monat, also auch an diesem 1. November 2023, Menschen, die einen Angehörigen verloren oder sonst einen schmerzhaften Verlust erlitten haben, im Kloster ins Trauercafé kommen: Es ist ein «geschützter Ort, um zu reden, einander zuzuhören, zu trauern, aber auch um neue Impulse, Mut und Kraft zu schöpfen». Allerheiligen ist ja auch ein wichtiger Brückentag zum Gedenken an alle Ahnen und Verstorbenen. Das Andenken an sie wird in der katholischen Kirche am 2. November, an Allerseelen, begangen.

Die Hoffnung und den Mut im christlichen Glauben, der über den Tod hinausweist, hat der Zürcher Künstler Max Rüedi für die Dominikanerinnen in Ilanz im sogenannten Vollendungsfenster ins Bild gesetzt. Es zeigt eine Taube, die von Feuerflammen wegfliegt. Der Kopf der Taube ist nicht im Bild. «Es ist der Mensch im Hinübergang, im Heimgang, im Sterben», sagt Schwester Friedburga. Die davonflatternde Taube markiert also den Überflug von dieser in eine andere Welt.

Unsere Seele ist wie ein Vogel, der dem Netz der Vogelsteller entronnen, das Netz ist zerrissen, und wir sind frei.
Psalm 124,7 – Aus den Erläuterungen zum Vollendungsfenster im Kloster Ilanz.

Die Flammen der Liebe folgen einem nach

Ihre Augen schauen schon eine für uns unsichtbare Welt. «Der Mensch im Sterben sieht schon etwas vermutlich Wunderbares: Wärme, Licht, Frieden, Aufgenommensein.» Und die Flammen? «Seine Werke, das Licht, die Liebe, die der Mensch auf Erden verbreitet hat und die er erfahren hat, folgen ihm nach. Sie stützen ihn, sie bleiben, insofern stirbt ja auch die Liebe nicht», sagt die 85-jährige Schwester.

«So habe ich das auch bei der Abdankung meiner Schwester formuliert: Weil Gott die Liebe ist und die Liebe nicht sterben kann, stirbt auch der Verstorbene nicht, sondern er lebt.» Die Augen würden angezogen von einer verwandelnden, leuchtenden, ewigen Kraft, die es uns ermögliche zu sterben. «Aber wir wissen nicht genau, wie das ist und wir werden es alle nur einmal erfahren», sagt die Schwester mit einem Lächeln. Sie aber sei sich recht sicher, dass sie dort presönlich empfangen werde.