«Ich glaube, dass es mit dem Zynismus vorbei ist»

Gesellschaft

Rutger Bregman berührt mit seinen Büchern Menschen rund um den Globus. Seine Botschaft: Um die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern brauchen wir ein positiveres Menschenbild.

Sie schreiben ein Buch, in dem Sie darlegen, dass der Mensch grundsätzlich eine gutartige Spezies ist. Damit landen Sie einen Bestseller in mehreren Ländern. Ist es nicht eigenartig, dass diese Botschaft derart eingeschlagen hat? Rutger Bregmann: Ich war vom Erfolg total überrascht. Offenbar hatten die Menschen darauf gewartet. Ich habe seit einiger Zeit den Eindruck, dass es mit dem Zynismus vorbei ist. Immer mehr Menschen suchen nach Quellen der Hoffnung.  

Was veranlasste Sie, das Buch zu schreiben? 
Erstens stellte ich in verschiedenen Wissenschaftsfeldern eine Verschiebung fest. Psychologen, Anthropologen und Soziologen haben inzwischen Beweise gefunden, dass der Mensch friedlich veranlagt ist. Das wollte ich bekannter machen. Zweitens faszinieren mich Ideen wie das Grundeinkommen oder das niederländische Erfolgsmodell «buurtzorg», in dem sich Pflegende ohne Hierarchie organisieren, um Leute daheim zu versorgen. Ich glaube, dass Menschen gern mitgestalten und kooperativ sind. Als Historiker hatte ich eigentlich ein anderes Bild mitbekommen.   

Was für eines? 
Eines, das sich an der Fassadentheorie orientiert. Diese sagt, dass der Mensch nur eine dünne moralische Schicht besitze, die durch Kultur und Zivilisation entstanden sei und die seine selbstsüchtige, destruktive Natur überdecke. Dieses Bild hinterfragte ich jedoch zunehmend. Ich vertiefte mich in typische Geschichten, die als angeblicher Beweis für den egozentrischen Menschen dienen. Dabei stiess ich auf viel Erstaunliches.  

Zum Beispiel auf das Stanford-Prison-Experiment: Studenten schlüpften in die Rollen von Wächtern und Gefangenen, und ein Teil der Wächter verhielt sich innert kürzester Zeit sadistisch.    
Das Experiment gilt noch heute als Paradebeispiel dafür, wie schnell die moralische Fassade zerbröselt. Allerdings fand man später heraus, dass der Leiter des Experiments die Wächter ausdrücklich zu brutalem Handeln aufgefordert hatte. Über diese Erkenntnisse wurde dann aber kaum berichtet. 

Wie sind wir denn zu diesem negativen Menschenbild gekommen?  
Ich sehe vier Hauptursachen. Die erste sind die Nachrichten, die wir täglich konsumieren. Sie fokussieren aufs Negative, denn damit lassen sich mehr Leser, mehr Klicks generieren. Menschen, die ständig durch den Newsfeed scrollen, werden zynischer. Zweitens ist die Fassadentheorie tief in der westlichen Kultur verankert. Sie geht auf die alten Griechen zurück und taucht immer wieder auf, etwa beim Kirchenvater Augustinus, dem Philosophen Thomas Hobbes, dem Politiker John Adams, in der Aufklärung und im modernen Kapitalismus.  

Warum hält sie sich so hartnäckig? 
Das hat mit der dritten Ursache zu tun: Es liegt im Interesse von Machthabern, das Bild des selbstsüchtigen Menschen zu zementieren. Können Menschen einander nicht vertrauen, brauchen sie Chefs, die die Fäden in der Hand halten: Manager, CEOs, Bürokraten. Ginge man von einem positiven Menschenbild aus, würde das eine andere Gesellschaftsform bedeuten. Eine demokratische, in der niemand allein das Sagen hat. Das würde jedoch die Macht der Oberen bedrohen. 

Gehen wir davon aus, dass Menschen gut sind, holen wir das Gute aus ihnen heraus.

Was ist die vierte Ursache? 
Etwas bewirkt in uns, dass wir uns mehr auf Negatives als Positives konzentrieren. 95 Prozent der Zeitgeschichte lebte die Menschheit als Jäger und Sammler und musste sich der Gefahren stets bewusst sein, um überleben zu können. Sagen Ihnen zehn Leute, Sie hätten einen guten Artikel geschrieben, und einer fand ihn schlecht, werden Sie nur über die Kritik nachdenken. Unser Negativitätsbias wird heute permanent durch die Newsberichte gefüttert.  

Sie fanden viele Beispiele, die zeigen, dass der Mensch in der Regel kooperativ und wohlgesinnt ist, in Krisen sogar noch stärker. Welche überzeugten Sie am meisten? 
Wenn man die Frage stellt, warum Menschen und nicht Neandertaler oder Schimpansen unsere Zivilisation erschaffen haben, ist die Antwort: wegen unserer Eigenschaft, zusammenzuspannen. Nicht die gewalttätigsten, nein, die freundlichsten Gemeinschaften entwickelten sich weiter. Menschen mögen Gewalt nicht, es geht ihnen gut, wenn sie lieben und friedlich leben können. Soldaten wollen nicht von Natur aus schiessen, sie werden dazu gebracht, und die meisten schaffen es dann nur aus der Distanz. Und was mich auch überzeugte: Wir sind die einzigen Lebewesen, die vor Scham erröten. Wer errötet, lässt erkennen, dass er etwas darauf gibt, was andere von ihm denken. Das schafft Vertrauen.  

Zurzeit steht eher Schamlosigkeit hoch im Kurs, wie Putin, Orban und eine ganze Reihe andere Politiker demonstrieren.  
Macht korrumpiert. Sie wirkt wie ein Anästhetikum, das einen Menschen von den anderen abgrenzt. Menschen mit psychopathischen Zügen haben bessere Chancen, an die Spitze zu kommen, das ist erwiesen. In vielen Institutionen ist die Macht pyramidenartig strukturiert. Sie basieren auf Wettbewerb und Egoismus. Förderlicher wären flach organisierte Institutionen.  

Ihr Vater war reformierter Pfarrer. Was für ein Menschenbild vermittelte er Ihnen? 
Er ist ein Mann der Hoffnung, ohne Dogmen, sehr wohlwollend. Seine Doktorarbeit schrieb er über Poesie. Als Zehnjähriger fragte ich ihn: «Glaubst du, dass Jesus für unsere Sünden gestorben ist?» Er runzelte die Stirn und sagte: «Religion handelt von Mysterien, von Fragen, von Poesie, sie gibt keine simple Antworten auf solche Fragen.»  

Sie sind nun selbst Vater. Spielen Ihre Erkenntnisse in die Erziehung Ihrer kleinen Tochter hinein?  
Ich bin sehr skeptisch gegenüber der konventionellen Erziehung und Schulbildung, denn das sind Top-down-Modelle. Ich will meine Tochter nicht dressieren. In ihr steckt von Geburt an ein Charakter, ich kann sie nicht formen. Meine wichtigste Aufgabe ist es, ihr ein gutes Vorbild zu sein.  

Und was machen Sie bewusst? 
Ich nenne im Buch zehn Lebensregeln, eine beherzige ich besonders: «Gehe im Zweifelsfall vom Guten aus.» So bin ich positiver unterwegs und erlebe, wie sich Freundlichkeit vervielfältigt. Wenn wir glauben, dass die meisten Menschen im Grund nicht gut sind, behandeln wir uns gegenseitig auch dementsprechend. Gehen wir davon aus, dass Menschen gut sind, holen wir das Gute aus ihnen heraus.  

Das heisst: Wir bekommen das, was wir von jemandem erwarten. 
Ja. Nur mit einem hoffungsvolleren Menschenbild können wir Herausforderungen wie den Klimawandel und die Ungleichheit besiegen. Wir dürfen mehr Vertrauen in andere haben und etwas kritischer gegenüber uns selbst sein. Meistens machen wir es andersherum

Rutger Bregman, 34

Bregman studierte Geschichte an der Universität Utrecht und in Los Angeles. Er ist Journalist beim niederländischen Online-Portal «De Correspondent», das gemäss eigenen Worten «tiefgründige Artikel, die helfen, die Welt besser zu begreifen» publiziert. Bregman ist Autor mehrerer Sachbücher. «Im Grunde gut» (2020) und «Utopien für Realisten» waren auf zahlreichen Bestsellerlisten und wurden in 40 Sprachen übersetzt.