"Die Gesellschaft ist entsolidarisiert"

Bioethik

Die Churer Ethikerin Christina Tuor will nicht schwarz-weiss über Probleme entscheiden. Das gemeinsame Gespräch ist für sie zutiefst reformiert.

Für die Mehrheit der Schweizer überfordert moderne Fortpflanzungsmedizin die Menschen

. Überrascht S

ie das?

Christina Tuor: Überhaupt nicht. Zwar irritiert meines Erachtens nicht die Fortpflanzungsmedizin, mit der kommen ja nicht alle Menschen in Kontakt. Aber es irritiert die Diskussion um die Fortpflanzungsmedizin. Auf der einen Seite steht das Recht auf eigene Gestaltung des Lebens, auf der anderen Seite der Ruf nach Grenzen gegen den Missbrauch medizinischer Möglichkeiten.

Was überfordert da genau?

Ich habe von vielen Menschen gehört, die nicht wussten, wie sie über die Verfassungsänderung zur Fortpflanzungsmedizin im Juni abstimmen sollten. Das lag an der Komplexität der Frage. Es ging ja nicht nur um ökonomische Fragen, etwa, ob der Forschungsstandort Schweiz erhalten bleiben soll. Es ging auch um medizinische und medizinethische Fragen: Wie funktioniert Präimplantationsdiagnostik (PID)? Welche medizinischen Eingriffe sollen erlaubt werden? Oder auch: Hat die Zulassung von PID Auswirkungen auf Menschen mit Behinderung?

Und damit kommen wir zur Ethik.

Genau. Der Verfassungstext erlaubt PID, wenn eine «schwere Krankheit» vorliegt. Aber was genau ist eine schwere Krankheit? Ist Downsyndrom eine schwere Krankheit? Kinderlosigkeit? Welche Rolle spielt bei diesem Krankheitsbegriff das gezeugte Kind? Wer entscheidet, was «schwer» ist? Hier müsste eine möglichst öffentliche Diskussion geführt werden – auch wenn die Entscheidung dann natürlich auf politischem Weg erfolgt.

Was sind denn die grössten ethischen Probleme heute in der Medizin?

Die Fragen zum Lebensanfang und zum Lebensende. Ethisch heikel werden diese Fragen durch die rasanten Fortschritte der Medizin in den letzten Jahren. Für den Einzelnen ist es vielleicht noch einfach, solche Fragen mit Ja oder Nein zu beantworten. Aber als Regelung für eine ganze Gesellschaft ist das schwieriger. Hier müssten wir Theologen und Kirchen uns früher einbringen und nicht nur auf politische Vorlagen reagieren. Darum finde ich die kommende Tagung in Chur in ihrer Anlage so spannend (Box unten).

Was hätten Theologen zu sagen?

Sicher nicht schwarz oder weiss, auch wenn Journalisten es gerne so hätten. Bioethische Themen verlangen, was reformierte Theologie auszeichnet: den Weg mit anderen zu gehen, auf Argumente zu hören, eigene Argumente zu formulieren und am Ende das Ergebnis demokratisch zu akzeptieren.

Christen äussern sich meistens besonders skeptisch gegenüber den heutigen medizinischen Möglichkeiten. Woran liegt das?

Zum christlichen Glauben gehört die Zusage Gottes, dass er für uns sorgt. Als Christin weiss ich mein Leben geführt und kann ich mich führen lassen. Das gibt Vertrauen, sein Leben auch in anderen Händen wissen zu dürfen.

Deshalb muss ein Christ gegen Beihilfe zum Suizid sein oder gegen PID?

In der Schweizer Gesellschaft, mit all den medizinischen Möglichkeiten des reichen Westens, können Christen nicht einfach sagen: So wie ich es sehe, so muss die ganze Gesellschaft funktionieren. Aber Christinnen und Christen sollen das Menschenbild, wonach der Mensch von Gott geleitet und in seiner Würde unendlichen wertvoll ist, in die Diskussion um assistierten Suizid einbringen. Es braucht diese Stimmen.

Und wenn jemand assistierten Suizid aus christlichen Gründen befürwortet?

Dann bin ich gespannt auf seine Argumente. Ich persönlich habe keine Deutungshoheit über christlichen Glauben. Aber ich habe Bedenken: Mir fehlt bei Befürwortern vom assistierten Suizid der Gemeinschaftsgedanke. Es ist für mich Ausdruck einer entsolidarisierten Gesellschaft.

Wieso? Wer im Alter sein Leben beendet, fällt der Gesellschaft oder Kindern nicht weiter zur Last. Das ist doch sehr solidarisch.

Nicht die Person ist unsolidarisch. Aber es zeigt eine Gesellschaft, in der familiäre und soziale Netze nicht mehr bis ans Lebensende funktionieren. Menschen brauchen Beziehungen, die zusichern, dass ihr Leben Sinn macht, auch im Leiden. Das fehlt heute zunehmend.

Ethik in der Gesundheitspolitik

Ein Forum in Chur über Ethik in der Reproduktionsmedizin, Patientenautonomie, Suizidhilfe und andere Themen. Teilnehmende: Christian Rathgeb, Bigna Infanger-Damur, Suzanne von Blu­men­thal, Eduard Felber, Christina Tuor. Am 5. November, 15.30 bis 20 Uhr, Klinik Wald­haus, Chur, Mehrzwecksaal.