Recherche 28. Februar 2022, von Rita Gianelli

Sie hat aus der Not ein Herzensprojekt gemacht

Integration

Seraina Gaudenz arbeitet mit Menschen aus Eritrea. Diese Zusammenarbeit ist essenziell. Und mit ein Grund, warum sie ihren Job immer noch spannend findet.

Das Thema Migration geht jeden von uns an.
Seraina Gaudenz, Hauswirtschaftsleiterin

Es ist sieben Uhr am Morgen. Im Erdgeschoss des Hotels Waldhaus Sils zieht es. Seraina Gaudenz hat die Fenster zum Durchlüften geöffnet. Dann inspiziert sie mit dem Portier die Grand Hall und rückt da und dort ein Kissen zurecht. Der Duft von Weihrauch mischt sich in die gelüfteten Gänge. Jeden Morgen entzündet Gaudenz Räucherstäbchen vor ihrem Büro. «Die reinigen die Atmosphäre», sagt sie.

Strenges Regime

Seraina Gaudenz ist die hauswirtschaftliche Leiterin des Nobelhotels in Sils Maria. Ein Drittel ihres 35-köpfigen Teams stammt aus Erit­rea. «Früher arbeiteten auf den Etagen vorwiegend Portugiesinnen, doch die kommen nicht mehr», sagt Gaudenz. Seit das Land sich wirtschaftlich erholt hat, bleiben viele in Portugal, weil sie dort Arbeit finden. Den Hotels in der Schweiz fehlt es zunehmend an Personal. Geflüchtete aus Eritrea einzustellen, lag also auf der Hand. Doch anders als Portugiesinnen und Portugiesen können Angestellte aus Afrika in der Zwischensaison nicht mal schnell ins Heimatland zurückkehren. Die Ganzjahresstellen sind in der Hotellerie aber rar gesät. Sobald also eritreische Mitarbeitende eine Ganzjahresstelle gefunden haben, sind saisonale Stellen im Hotel für sie uninteressant. «Letzten Sommer kündigten aus diesem Grund gerade vier Personen gleichzeitig. Mitten in der Saison», erinnert sich Seraina Gaudenz, «diese Situation brachte uns alle an unsere Grenzen.»  
Um 7.30 Uhr ist es Zeit für das erste Morgenbriefing. «Wo ist Idris?», ruft Seraina Gaudenz. Dieser kommt bereits angerannt und knöpft sich sein Hemd zu. Gaudenz reicht die Arbeitspläne an die Anwesenden weiter. Der Reihe nach lesen sie vor, was darauf steht, damit die Chefin weiss, dass sie verstanden haben. «Wie bitte?», fragt sie Abdella, dem es schwerfällt, das Wort Nackenrolle auszusprechen. Sie sagt es ihm vor. «Wiederhole es bitte!», befiehlt sie. Dann müssen es alle wiederholen. Abdella ist einer ihrer elf eritreischen Mitarbeitenden. «Mit niemandem war ich so streng wie mit ihm», sagt sie. Zigmal habe sie ihn die Bettfalte oder das Handtuchfalten und das Scheibenwischen wiederholen lassen. «Ich spürte, dass Abdella ein sehr guter Mitarbeiter werden würde.» Heute ist er ihr verlängerter Arm.Nach dem Briefing sitzt Gaudenz in ihrem winzigen Büro und checkt die Mailbox. Freie Arbeitsfläche gibt es hier kaum. Doch alles ist griffbereit: Ablage, Telefon, Arbeitsmappen, Leuchtstifte.

Interne Schulung

Auf dem Bildschirm erscheint eine Nachricht des Polizeipostens von  St. Moritz. Kürzlich sind Polizisten im Nobelhotel aufgekreuzt. Einer der Angestellten hat Schulden und seit Monaten seine Rechnungen nicht bezahlt. Vielen sei einfach nicht bewusst, welche Konsequenzen ihr Verhalten mit sich bringe, so Seraina Gaudenz. Eintragungen ins Betreibungsregister, lebenslange Schulden. Doch sie konnte vermitteln und packte die Gelegenheit beim Schopf: Die nächste interne Weiterbildung organisiert sie zusammen mit der Polizei. «Wir wollen unsere Mitarbeitenden für die Folgen sensibilisieren, die gewisse Handlungen für sie in der Schweiz haben können», sagt Gaudenz. Mit dabei sein wird auch die kantonale Fachstelle Integration, mit der sie regelmässig in Kontakt steht. Jedes Jahr organisiert Gaudenz interne Schulungen vor der Sommersaison. Vom Schminken und Frisieren über Meditationsübungen bis zum Coaching mit einem Skirennfahrer, der über den Zusammenhalt von Teams sprach, hat sie schon alles angeboten. Draussen kriecht die Morgensonne hinter dem Corvatsch hervor, die Glöckchen der Kutschenpferde bimmeln. Gaudenz macht sich mit ihrem Klemmbrett auf zum Kontrollgang. Das Handy klingelt. Es ist die Fremdenpolizei Graubünden, mit der sie sich über den aktuellen Stand von Abdellas Familienzusammenführung austauscht. «Das Thema Migration geht uns alle an, denn die Menschen leben mit uns.» Nicht alle akzeptieren das. Es gab Gäste, die wollten ihr Zimmer nicht von dunkelhäutigen Angestellten gereinigt haben. Selbst unter den Angestellten gibt es Rassismus. Deshalb besuchte Seraina Gaudenz Kurse beim National Building Coalition Institute, einem Verein, der sich für die Verständigung und den Abbau von Rassismus einsetzt. Dadurch erfuhr sie beispielsweise, dass in Eritrea der direkte Augenkontakt als unanständig gilt oder man das Siezen als Höflichkeitsform nicht kennt. Dieses Wissen baut Seraina Gaudenz auch in die Mitarbeiterschulungen ein.

Mittagspause allein

Die Crew ist inzwischen beim Mittag im Personalrestaurant. Auch Seraina Gaudenz zieht sich eine halbe Stunde zurück. Sie isst ihr eigenes, frisch zubereitetes Essen irgendwo im Hotel, wo sie für niemanden erreichbar ist.
Vor zwölf Jahren begann die gelernte Dekorationsgestalterin, mit eritreischen Geflüchteten zusam­men­­zuarbeiten. Damals war es «ein Herzensprojekt». Heute ist der Hotelbetrieb ohne die Eritreer nicht mehr möglich.