Die Krux der Statistik von Mitgliederzahlen der Kirchen

Kirche

Die jährliche Statistik zeigt wieder: Landeskirchen verlieren Mitglieder, Freikirchen sind eher stabil oder wachsen. Der Vergleich nackter Zahlen offenbart aber nicht alles.

Statistik ist grundsätzlich gnadenlos: Im Jahr 2020 waren in der Schweiz 1,57 Millionen Menschen als evangelisch-reformiert gemeldet, ein Jahr später waren es noch 1,53 Millionen. Das entspricht einem Rückgang von 40'000 Mitgliedern beziehungsweise von 21,8 auf 21,1 Prozent der Gesamtbevölkerung. Der Anteil von Mitgliedern der römisch-katholischen Kirche an der Gesamtbevölkerung sank auf höherem Niveau verhältnismässig ähnlich: von 33,8 Prozent im Jahr 2020 auf 32,9 Prozent ein Jahr später. 

Längerfristig ging gemäss Bundesamt für Statistik der Anteil der Reformierten seit 1970 kontinuierlich zurück: Von 48,8 Prozent auf eben 21,1 Prozent im Jahr 2021. Leicht zugenommen habe dagegen der Anteil anderer christlicher Gemeinschaften wie die Christkatholische Kirche, orthodoxe Gemeinschaften und Freikirchen: Zusammen gehören ihnen zurzeit 5,6 Prozent der Bevölkerung an.

Viele Religionen, ein Evangelium

Die aktuelle Situation hat den Dachverband Freikirchen.ch veranlasst, ihr Resultat als positiv herauszustreichen. Im Gegensatz zu den Landeskirchen zeige eine Auswertung von 2019 – 2022, dass in der Schweiz die Zahlen der Freikirchen stabil blieben und sogar 22 neue Lokalkirchen gegründet worden seien, schreibt der Verband in einer Mitteilung. 

In landeskirchlichen Gemeinden sind Menschen mit enger bis zu sehr loser Bindung versammelt. Mitglieder mit einer weniger engen Bindung treten mit grösserer Wahrscheinlichkeit aus.
Stefan Jütte, Leiter Theologie und Ethik bei der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS)

Weiter wird Peter Schneeberger, Präsident des Dachverbandes, zitiert mit der Aussage, der persönliche Glaube an Jesus habe nichts von seiner Bedeutung verloren. Und er setzt hinzu, dass die «Statistiker» nicht unterscheiden würden zwischen Religion und Evangelium. Religionen gebe es tausende, Evangelium nur eines. Und: «Religion heisst auch ‘zurückbinden/gefügig machen’. Aber Jesus setzt frei, dies war den religiösen Führern schon immer ein Dorn im Auge.»

Der Spagat der Landeskirchen

Für Stefan Jütte, Leiter Theologie und Ethik bei der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS), ist der Vergleich von Mitgliedern zwischen Landeskirchen und Freikirchen hingegen «eigentlich kaum möglich». Die Landeskirche sei historisch gewachsen und habe als Volkskirche andere Aufgaben, Strukturen und ein anderes Mitgliederverständnis als viele Freikirchen.

«Mitglieder von Freikirchen sind häufig sehr stark involviert. In landeskirchlichen Gemeinden sind Menschen mit enger bis zu sehr loser Bindung versammelt. Mitglieder mit einer weniger engen Bindung treten mit grösserer Wahrscheinlichkeit aus», sagt Jütte. Die landeskirchlichen Gemeinden meisterten den Spagat zwischen verschiedenen Bindungs- und Beziehungsintensitäten. Sie seien auch für die Menschen da, deren Alltag nicht durch die Kirche bestimmt ist. «Das gehört zu uns.» Und sie verlören ihre Mitglieder auch nicht an die Freikirchen.

«Originelle Etymologie»

Dass der persönliche Glaube an Jesus nichts von seiner Bedeutung verloren haben soll, wie der Freikirchen.ch-Präsident sagt, unterstützt Stefan Jütte zwar persönlich: «Für mich selbst stimmt das. Gesamtgesellschaftlich lässt sich aber nicht übersehen, dass der Glaube an Gott für die Lebensführung, die Alltagsgestaltung oder die politische Orientierung an Bedeutung verloren hat.»

Fünf Erfolgsfaktoren der Freikirchen – und der Landeskirchen

Gemäss der Mitteilung der Freikirchen zur Statistik der Anzahl Mitglieder seien ihre Stärken der Freiwilligkeit gerade in der Pandemie zum Zug gekommen. Bestehende Dienstleistungen seien «bewusst attraktiv gestaltet oder ausgebaut», heisst es. Und der Dachverband nennt fünf Punkte, die gemäss der Auswertung zum Erfolg beigetragen hätten. Im Wortlaut sind das die folgenden – die gemäss dem Verantwortlichen für Theologie und Ethik der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS), Stefan Jütte, aber auch bei den Landeskirchen gelten würden:

1. Freikirchen sind unermüdlich im Einsatz und haben in den letzten drei Jahren insgesamt 22 neue Lokalkirchen gegründet.
2. Das Gottesdienst-Angebot wurde mit der Verteilung auf mehrere Anlässe und einem Livestream-Angebot erweitert. In der Pandemie hat vor allem das rasche Angebot von Livestreams zusätzliche Gäste beschert. Miteinander Gott suchen und anbeten zieht viele an. Der Verband Freie Evangelische Gemeinden in der Schweiz (FEG) berichtet, dass in den letzten zehn Jahren 24 der 80 Bundesgemeinden stark renoviert oder neu gebaut haben. Dies hatte einen grossen Effekt auf die Auftragsorientierung der Lokalkirchen und häufig haben sie ein ganz neues Segment von Leuten gewonnen.
3. Es gibt verstärkt Beziehung fördernde Angebote wie Kleingruppen, gemeinsame Essen oder gemeinsame Wochenende. Die sind sehr beliebt, denn die Attraktivität der sozialen Netzwerke hat in der Pandemie zugenommen. In den Kirchgemeinden suchen die Menschen den Austausch mit anderen über das, was sie bewegt. Sie wollen Alltagsfragen mit tieferen Lebensfragen verbinden.
4. Viele haben nach der Pandemie bewusst Anlässe mit wenig Programm geplant, dafür mit viel Raum für Gespräche.
5. Auch profitieren die Freikirchen davon, dass sie Leute aus verschiedenen Kulturen/Nationalitäten zusammenbringen.

Quelle: Mitteilung des Verbandes Freikirchen.ch vom 13. Februar 2023

Als «mindestens originelle Etymologie» (Wortherkunft) bezeichnet der Theologe hingegen die Erklärung des Begriffs «Religion» durch Peter Schneeberger mit «zurückbinden/gefügig machen». Zurückbinden sei eigentlich nicht so gemeint, dass eine Pflanze am Wachstum gehindert wird, führt Stefan Jütte aus. «Religio meint die ernsthafte und gewissenhafte Rückbesinnung und Bezugnahme auf etwas, das uns hält und trägt.»

Keine Mühe mit Glauben als Religion

Als Protestant bereite es ihm deshalb keine Mühe, den eigenen Glauben als Religion zu verstehen. «Ich kann dann im Gespräch mit anderen – religiösen und nichtreligiösen Menschen – lernen, wo sie Freiheit erfahren. Das Evangelium ist ja kein Gegenstand, den wir in der Hand haben. Sondern Gottes Wirklichkeit in dieser Welt, von der ich hoffe Teil zu sein.»

Was Landes- von Freikirchen lernen könnten, findet der Theologe Stefan Jütte «etwas schwierig, so pauschal zu beantworten». Freikirchen seien sehr unterschiedlich. Aber: «Auf jeden Fall gelingt es vielen Gemeinden – nicht nur unter den Freikirchen –, Menschen zu motivieren, das kirchliche Leben zu gestalten, ihre Begabungen einzubringen und Kirche zu machen. Das gefällt mir.»

Fünf Erfolgsfaktoren – aller Kirchen

Im Übrigen sieht der die «fünf Erfolgsfaktoren», die in der Mitteilung von Freikirchen.ch als Gründe für ihren «Erfolg» aufgeführt werden, auch von landeskirchlichen Gemeinden umgesetzt. Sie würden damit sehr engagierte und involvierte Menschen in der Gemeinde erreichen. Aber: «Bei den Landeskirchen betrifft das eben nur einen geringen Teil unserer Mitglieder.»