Recherche 28. Juni 2021, von Bettina Gugger

Eingebettet sein im grossen Ganzen

Literatur

Melitta Breznik thematisiert in ihren Romanen das Abschiednehmen. Dabei beobachtet die Psychiaterin auch, dass gläubige Menschen leichter sterben als andere.

Die Meldungen von einsam Verstorbenen in Alters- und Pflegeheimen, Berichte von Angehörigen intubierter Covid-Patienten, die sich nicht mehr von ihren Liebsten verabschieden konnten, machten viele im letzten Jahr betroffen. Melitta Brezniks 2020 erschienener Roman «Mutter. Chronik eines Abschieds» eröffnet den Raum fürs Abschiednehmen mit der Kraft der Literatur.

Hier schildert eine Ärztin den Sterbeprozess ihrer Mutter, die sie sechs Wochen lang pflegt. Mal geht die Tochter in der Rolle der Pflegerin auf, dann ist sie wieder als Ärztin gefragt, die über die Dosis der Schmerzmittel entscheiden muss. Abends, wenn die Mutter schläft, macht sich die Tochter und Schriftstellerin Notizen der schmerzlichen Beobachtungen der komprimierten Zeit des Loslassens.

Zurück zu den Wurzeln

Melitta Breznik wuchs im österreichischen Kapfenberg auf. Nach ihrer Ausbildung zur praktischen Ärztin in Österreich bildete sie sich weiter zur Fachärztin Psychiatrie und Psychotherapie in Zürich. Mit dem Schreiben angefangen hat Breznik zu Beginn ihrer Berufstätigkeit, als ihr ein Freund auf ihre Briefe hin riet, sich doch an einem Roman zu versuchen. 1995 erschien ihre erste Erzählung «Nachtdienst», die vom Tod ihres alkoholkranken, vom Krieg traumatisierten Vaters handelte. «Das Umstellformat» aus dem Jahr 2002 thematisiert die Geschichte der Grossmutter, die in einer psychiatrischen Klinik dem Euthanasie-Programm der Nazis zum Opfer fiel.

Ihre eigene Familiengeschichte und deren transgenerationale Muster bilden immer wieder den Ausgang für Brezniks Schreiben, das durch die literarische Gestaltung eine Fiktionalisierung erfährt. Mit dem Sterben der Mutter beginnt sich im Roman auch für die Tochter ein Erfahrungsraum zu schliessen, nachdem nochmals der Schatz der Kindheitserinnerungen gehoben wurde. Noch einmal lässt die Tochter das zarte Glitzern in den Kinderaugen aufleben, wenn sie der Mutter Märchen vorliest. Melitta Breznik besucht die Orte ihrer Kindheit, während auch die Mutter in ihre Erinnerungen hinabsteigt: «Es ist, als ob Mutter tiefer eintauchen würde in ihre Vergangenheit, als stünden ihr Details, die sie vorher nie erwähnt hatte, deutlicher vor Augen.» Für die Tochter ist es wiederum die letzte Gelegenheit, zu erfahren, wer ihre Vorfahren waren.

«Bei der Sterbebegleitung prallen zwei Räume aufeinander», sagt Breznik. «Sterben braucht Zeit, um sich auch emotional mit dem Abschied einer geliebten Person auseinanderzusetzen.» Daher auch ihre provokative Forderung nach Sterbebegleitungsurlaub. Andererseits hat der Tod seinen eigenen Fahrplan. So heisst es im Roman: «Mutter sagt, sie hadere mit dem Sterben, sie habe sich das Ganze einfacher vorgestellt. Man könne nicht sterben, nur weil man es wolle, das habe sie inzwischen verstanden.»

Pilotprojekt realisiert

Als Ärztin beobachtet Breznik, dass Menschen mit einem Glauben leichter sterben. Sie selbst glaubt an etwas Grösseres, wobei sie ihren hohen ethischen Anspruch ihrer humanistischen Bildung verdanke. Das Eingebettetsein ins grosse Ganze durchzieht Brezniks Werk, wobei sie stets die Figuren sprechen lässt. Fast nebenbei fliesst ihr Erfahrungsfundus mit ein, der sich aus ihrer langjährigen Tätigkeit als Ärztin, Psychiaterin und Expertin für Komplementärmedizin und Psy­chosomatik speist.

Brezniks nächste Publikation, ein Pilotprojekt, das sie in einer Schweizer Klinik umsetzte, handelt von der Fruchtbarmachung positiver Naturerfahrungen in der Kindheit zur Burn-out-Prävention. Die Gründung eines Instituts für naturbasierte Therapie habe ihr auch mal vorgeschwebt, sagt Melitta Breznik: «Aber ich habe nun mal nur ein Leben, und ich habe mich fürs Schreiben entschieden.»

Melitta Breznik: Mutter. Chronik eines Abschieds. Luchterhand, 2020

Melitta Breznik, 60

Die Psychiaterin und Psychotherapeutin arbeitete an verschiedenen Kli­niken in der Schweiz und in Deutschland. 2016 kam sie als leitende Ärztin für integrative und komplementäre Medizin der Clinica Curativa nach Scuol, wo sie den Aufbau einer psychosomatischen und psychoon­ko-logischen Rehabilitation vorantrieb.