«Frau Gerecht» und «Herr Krieg» auf gespanntem Fuss

Politik

Staatenlenker versuchen seit jeher, ihre Kriege als «gerecht» zu verkaufen. Ist dies überhaupt möglich? Philosophin Michelle Wüthrich beschäftigt dieses Thema derzeit stark.

Gibt es den gerechten Krieg? Gerade mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 steht diese Frage stark im Fokus, denn damit verflochten sind weitere Fragen, zum Beispiel: Wenn der Angriffskrieg Russlands ungerecht ist, gilt dann der Verteidigungskrieg der Ukraine automatisch und in jeder Form als gerecht?

Die am Kollegium St. Michael in Fribourg unterrichtende Philosophie- und Geschichtslehrerin Michelle Wüthrich setzt sich mit Blick auf die konflikbeladene und kriegführende Welt breit mit Fragestellungen zum «gerechten Krieg» auseinander. Auch in ihrem Unterricht greift sie das Thema auf.

Schwierige Begriffe

«Krieg ist für die Betroffenen immer schlimm», stellt Wüthrich im Grundsatz klar. Trotzdem gelte es jedoch, bei einem Kriegsgeschehen nicht nur auf die Tragik zu fokussieren, sondern auch darüber nachzudenken, ob eine militärische Intervention allenfalls Schlimmeres verhindern helfe. Oder was zu tun sei, um einen Krieg so herunterzukühlen, dass doch wenigstens ein Waffenstillstand möglich werde.

Michelle Wüthrich, gibt es den gerechten Krieg? So einfach lasse sich diese Frage nicht beantworten, erwidert sie. Schon die Klärung der Begriffe sei schwierig. «Ich selbst verstehe immer weniger, was ein Krieg eigentlich ist, je länger ich mich damit befasse.» Ein Kriegsgeschehen sei immer überaus komplex und von vielfältigen Faktoren, Ereignissen und Entscheidungen abhängig.

Philosophisch und ethisch klären lasse sich die Frage aber wenigstens in Bezug auf den Beginn eines Krieges. Einen Krieg anzufangen, sei in der Regel ungerecht, sich gegen einen Angreifer zu verteidigen, im Grundsatz gerecht. Ab dann aber werde es schwierig. Ist einem Verteidiger alles erlaubt? Oder muss auch er sich an bestimmte Grundsätze und Grenzen halten, damit nicht plötzlich auch er in die Ungerechtigkeit abkippt?

Wenn nur noch die Waffen helfen

Michelle Wüthrich verdeutlicht es am Beispiel des Zweiten Weltkriegs. Sie kenne keine philosophische Stimme, die die Verteidigung gegen den Angriffskrieg von Nazi-Deutschland als nicht gerecht taxieren würde. Dieser Krieg sei von einem durch und durch totalitären Regime vom Zaun gebrochen worden mit dem Ziel, eine menschenverachtende Ideologie flächendeckend in Europa durchzusetzen.

Nichts habe Hitler-Deutschland stoppen können als militärischer Gegendruck. Und doch würden etwa die vom britischen Luftmarschall Arthur Harris angeordneten Bombenteppiche auf deutsche Städte von vielen Historikerinnen und Historikern als unverhältnismässig und unmenschlich beurteilt.

Ich verstehe immer weniger, was ein Krieg eigentlich ist.
Philosophin Michelle Wüthrich

Wie wäre der Zweite Weltkrieg ohne diese Einsätze verlaufen? Das sei im Nachhinein kaum zu beantworten, sagt die Philosophin. Und doch müsse man sich bei aktuellen Konflikten stets wieder fragen: Was bringt eine bestimmte militärische Intervention? Dient sie den Menschen, hilft sie, Schlimmeres zu verhindern, beispielsweise einen Völkermord? Oder schlägt sie lediglich Wunden, die kaum verheilen?

Den «gerechten Krieg» als allgemeingültige Kategorie gibt es nach Wüthrichs Einschätzung nicht. Gerechtfertigte Kriegshandlungen dagegen schon, immer im Einzelfall und gut begründet.

Deshalb sei es, bei aller Emotionalität, auch so wichtig, über solche Fragen vertieft nachzudenken, erklärt sie. Je mehr man über Ursachen, Ziele, Sichtweisen und gesellschaftliche Befindlichkeiten wisse und je sorgfältiger man die Informationen einordne, desto bessere Entscheide würden Verantwortliche im Krisenfall schliesslich treffen.

Christlich übersetzt

Was kann dies für Christinnen und Christen bedeuten? Michelle Wüthrich, selber konfessionslos, ist interessiert am «moralischen Charakter» des Menschen, der sich auch in dem zeige, was Jesus lehrte. Er forderte Achtung vor dem Gegenüber und sprach auch dem Feind Menschenwürde zu. Übersetzt bedeute das, den Feind in der eigenen Vorstellung nicht zum unmenschlichen Monster zu machen. Eine derartige Dämonisierung enthalte nur neues Zerstörungspotenzial, gibt Wüthrich zu bedenken.