Recherche 24. April 2023, von Hans Peter Putzi

«Graubünden war eine Ausnahme»

Jubiläum

Chur feiert Johannes Comander. Er gilt als erster Wegbereiter der Glaubensfreiheit in Graubünden. Der Historiker Florian Hitz kennt den Weg zur heutigen Freiheit im Glauben.

Herr Hitz, ist das Wort «Glaube» ein Produkt der Religion?
Florian Hitz: Dieses Wort geht über das Bedeutungsfeld der Religion hinaus. Es betrifft auch weltliche Angelegenheiten. Auf Lateinisch ist ein Credo ein Glaubensbekenntnis, die Richtschnur der Gläubigen. Wer jedoch beispielsweise einen Kredit ge­währt, ist ebenfalls ein Gläubiger  oder eine Gläubigerin.

Bleiben wir dennoch bei der Religion. Was bedeutet denn «glauben» im religiösen Sinn?
Es bedeutet ein Fürwahrhalten und ein Vertrauen. Da die objektive Sicherheit fehlt, bleibt den Menschen nichts anderes übrig, als zu vertrauen. Diese sogenannte Glaubensgewissheit ist aber doch etwas mehr als eine blosse Hoffnung.

Interpretiert die evangelische Kirche in der Rückschau auf die letzten fünf Jahrhunderte den Glauben anders als die katholische?  
Die Glaubensinhalte, die Glaubenssätze sind tatsächlich verschieden. Das zeigte sich in der Reformation und ist immer noch so. Letztlich geht es beim Christentum ja auch darum, die Erlösung respektive das ewige Leben zu erreichen. Was ist der Weg dazu? Die Gnade, die durch den Glauben kommt, auf evangelischer Seite. Auf katholischer Seite ist es hingegen die Gnade, die durch das Spenden der Sakramente durch die Kirche und die Ausübung der gu­ten Werke nach Anleitung der Kirche kommt.

Martin Luther, Urheber der Kirchenspaltung, veröffentlichte seine Thesen 1517 nicht, um die Kirche spalten zu wollen. Was missfiel Rom an Luthers Verhalten?
Luthers 95 Thesen lösten Angst in der katholischen Kirche aus. Mit der Veröffentlichung seiner Thesen widersprach Luther der damaligen offiziellen Glaubenslehre. Zugleich hat er das Geschäft mit dem Ablasshandel infrage gestellt. Der war eine wichtige Einnahmequelle der katho­lischen Kirche. Mit erkauftem Seelenheil finanzierten die Gläubigen den Petersdom in Rom.

In Graubünden predigte wenige Jahre später Johannes Comander reformatorische Gedanken. Die Durchsetzung der Reformation soll in Chur nach vier Jahren erreicht worden sein. Wie konnte er die Bevölkerung so schnell überzeugen?
Chur war eine Stadt mit viel Transitverkehr, damit verband sich eine gewisse Offenheit gegenüber neuen Strömungen. Einen absoluten Vorsprung von Chur, eine Churer Exklusivität, gab es aber nicht. Im inneren Prättigau wurde – ausgehend von St. Antönien – durch das Wirken des Predigers Jakob Spreiter die Reformation zeitgleich mit Chur ein­geführt. Im Engadin fand die Bewegung nach 1550 zu ihrer Dynamik, unter Reformatoren wie Gian Travers und Ulrich Campell.

Wie stark war der Einfluss dieser Reformatoren auf die Meinungsfrei­heit in Graubünden?
Die Glaubens- und Meinungsfreiheit mit der Möglichkeit zur Abkehr vom Glauben herrschte nach der Reformation keineswegs. Es bestand nur die Wahl zwischen dem Glauben nach bisherigen katholischen Riten oder nach der neuen evangelischen Predigt. Gemeinschaften, die man heute als freikirchlich bezeichnen würde, wie die Täufer, wurden weiterhin nicht geduldet, ihre Angehörigen mussten Graubünden verlassen. Sie wurden aber nicht wie in anderen Regionen hingerichtet.

Ein kleiner Schritt in Richtung der heutigen Glaubensfreiheit.
Ja, das ist so. Die Reformation löste innerhalb der drei Bünde keinen Bürgerkrieg aus, was mit Blick auf europäische Gebiete einen positiven Ausnahmefall darstellte. Die beiden Konfessionsgemeinschaften akzeptierten sich und der Bundstag, das Parlament der drei Bünde, funktionierte weiterhin.

Wie beschleunigte die zunehmende Entflechtung von Kirche und Staat die Glaubensfreiheit?
Die Säkularisierung war Voraussetzung für die Glaubensfreiheit. Erst die Tatsache, als Atheist oder Mitglied einer anderen Religion keine negativen sozialen Konsequenzen befürchten zu müssen, bedeutete die absolute Glaubensfreiheit.

Woran glauben Sie?
Ich glaube an den Wert einer bestimmten Ethik in der Gesellschaft, dieses Verhalten muss aber nicht re­ligiös befohlen sein. Ich bezeichne mich als Agnostiker. Der Wert der Kirchen ist aus gesellschaftlicher Sicht nicht zu unterschätzen. Die Kirchen leisten in der Schweiz Arbeit, teilweise im Verborgenen, die ich als ungemein wertvoll einschätze

Veranstaltungen zum Commander-Jubiläum: https://comander2023.ch/

Florian «Fluri» Hitz, 58

Der Historiker und Doktor der Philosophie ist im Prättigau aufgewachsen. Er hat verschiedene Publikationen in Zu­sammenhang mit der weltlichen und der religiösen Bündner Politik der letzten 500 Jahre veröffentlicht. Er ist bei der Kulturforschung Graubünden und im Staatsarchiv Graubünden tätig.