Recherche 03. September 2018, von Tilmann Zuber

Die reformierte Kirche hielt sich zurück

Landesstreik

1918 gingen Arbeiter für ihre sozialen Forderungen auf die Strasse. An der Schwelle eines Bürgerkrieges versuchten die Kirchen zurückhaltend zu vermitteln.

Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges kam es in Europa zu Revolutionen: In Kiel begann am 4. November 1918 der Matrosenaufstand, fünf Tage später dankte der deutsche Kaiser ab. Am 11. November wurde in Österreich die Republik verkündet.

Auch in der Schweiz ging im Herbst 1918 das Revolutionsfieber um. Die Arbeiterschaft demonstrierte auf den Strassen und streikte, um ihrer Forderung nach der 48-Stundenwoche, der Sicherung der Lebensmittelversorgung, sowie der Alters- und Invalidenversicherung auf der Strasse Nachdruck zu verleihen.

Die soziale Situation der Bevölkerung war vielerorts gravierend. Schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die Industrialisierung die Arbeiterschaft in die Armut getrieben. 1918 verschärfte sich die Situation auf Grund der Inflation, der hohen Staatsverschuldung und des 1. Weltkrieges zusätzlich. Vor allem in den Städten war die Bevölkerung verarmt und hungerte.

Appell für Wohltätigkeit

Christine Nöthiger-Strahm hat in ihrer Dissertation die Reaktion der reformierten Kirchen auf den Generalstreik untersucht. «Die Protestanten hielten sich Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts mit Sozialkritik zurück und wollten nichts an den grundsätzlichen sozialen Strukturen der Gesellschaft ändern», stellt die Theologin fest. Der Zürcher Theologieprofessor Johann Peter Lange (1802 bis 1884) deutete die Verarmung vieler Menschen als Folge der Sünden und als prophetische Erscheinung, die die Menschen zur Umkehr rufe.

Die Richtungsstreitigkeiten zwischen Liberalen und Positiven lähmten die reformierten Kirchen zusätzlich. «Die Pfarrschaft unterstützte die Arbeiterbewegung in ihren sozialen Forderungen kaum», sagt Nöthiger. «Bei der Nächstenliebe setzten sie auf karitative Werke, um die Nöte im In- und Ausland zu lindern. Der Appelle von der Kanzel beschränkten sich vor allem für mehr Wohltätigkeit.»

«Ich bin Sozialist, weil ich an Gott glaube»

In Zürich hingegen entstand Anfang des 20. Jahrhunderts die sozial-religiöse Bewegung um Leonhard Ragaz. «Ich bin Sozialist, weil ich an Gott glaube», erklärte der Theologieprofessor und brachte Sozialismus und Christentum auf den gleichen Nenner.

«Mit prüfendem Blick in die Bibel entlarvten Ragaz und Karl Barth die vom Staat behauptete Bolschewismusgefahr als Strategie, um Repressionsmassnahmen gegen die eigene Bevölkerung zu begründen», schreibt der Sozialethiker Frank Mathwig. Doch Barth warnte auch davor, den Sozialismus als Heil zu vergöttern.

Die religiös-soziale Bewegung und Barths Ansatz, der vor der Vergöttlichung der Politik und Menschen warnte, schufen die theologische Basis für eine Kirche, die sich sozialkritisch und politisch engagiert. Etwa für die Bekennende Kirche in Deutschland, die gegen die Nazi-Diktatur kämpfte, oder für die Befreiungstheologie in Lateinamerika.

Theaterprojekt «1918.CH – 100 Jahre Landesstreik»

Rund hundert Mitwirkende aus dem Kanton Solothurn und angrenzenden Gemeinden sind an dem Theaterprojekt «1918.CH – 100 Jahre Landesstreik» beteiligt. Sie werden von der Sinfonietta Basel und einem Theaterchor begleitet. 20 Theatergruppen aus allen Landesteilen bringen je eine Szene aus ihrem Kanton nach Olten. In jeder Vorstellung sind jeweils zwei dieser regionalen Gruppen zu sehen, jede Aufführung erhält dadurch ein eigenes Gesicht.

Noch bis Sonntag, 23. September.
Weitere Informationen: www.1918.ch