Recherche 11. April 2023, von Felix Reich

Durch die Mystik zur Tat

Literatur

Etty Hillesum stand den Jüdinnen und Juden im Durchgangslager Westerbork in den Niederlanden bei und suchte nach Gott. Endlich liegen sämtliche Tagebücher auf Deutsch vor.

Der Podcast mit Herausgeber Pierre Bühler

Mehrmals hätte Etty Hillesum untertauchen und sich retten können. Aber sie blieb. Im Durchgangslager Westerbork in den von den deutschen Nationalsozialisten besetzten Niederlanden stand die Tochter einer Russin und eines Niederländers anderen Jüdinnen und Juden bei. Mit eiserner Disziplin führte sie von 1941 bis 1943 Tagebuch. 

Ab Sommer 1942 arbeitete Hillesum für den Judenrat. Der zynischen Erfindung der Nazis wurde die Administration des Lagers übertragen, von dem aus die Menschen auf die Züge in die Vernichtungslager geschickt wurden. Im September 1943 musste Etty Hillesum mit ihren Eltern und ihrem Bruder selbst den Zug besteigen. Das Rote Kreuz verzeichnete ihren Tod am 30. November 1943 in Auschwitz.

Chronik und Selbstfindung

Die Tagebücher und Briefe, die Hillesum hinterlassen hat, sind nun erstmals als Gesamtwerk auf Deutsch übersetzt erschienen. Die Übersetzungen sind von Christina Siever und Simone Schroth. Herausgegeben hat das Buch der Theologieprofessor Pierre Bühler, der ihre Texte zuerst auf Französisch für sich entdeckt und zu ihrem 100. Geburtstag 2014 an der Universität Zürich ein Seminar angeboten hatte. Ihn faszinieren insbesondere «die verschiedenen Ebenen, die in den spannungsvollen Texten ineinandergreifen».

Da ist zuerst die psychologische Entwicklung, die sich verfolgen lässt. Mit dem Schreiben der Tagebücher hatte Hillesum auf Anraten ihres Analytikers Julius Spier begonnen. Mit dem charismatischen, 27 Jahre älteren Schüler von Carl Gustav Jung verband sie eine tiefe Freundschaft.

Paulus und Rilke

Hinzu kommen die Schilderungen der Zustände im Durchgangslager, kritische Reflexionen über die Rolle, die der Judenrat bei der Verfolgung spielte, und eine leidenschaftliche intellektuelle Gottessu­che. Sie las alttestamentliche Tex­te ebenso wie das Matthäusevangelium und Paulusbriefe. 

Intensiv setzte sie sich mit religiösen Schriften des Dichters Rainer Maria Rilke und dem Mystiker Meister Eckhart auseinander. Sie fand einen hilflosen, auf die in Nächstenliebe tätigen Menschen angewiesenen Gott. Seine paradoxe Kraft ent­faltet dieser Gott an den Orten der Schwachheit, auf dass die Menschen füreinander da sind, so finster die Stunde auch sein möge.

Vom Schrecken singen

Im Oktober 1942 schrieb Hillesum: «Es gibt ein Stückchen Gott in mir, das zu einem Dichter heranwachsen könnte.» Schreibend und betend, «was bei ihr zusehends eins wurde», wie Pierre Bühler im Gespräch sagt, bereitete sie sich auf die Deportation vor: «In einem solchen Lager muss es doch einen Dichter geben, der das Leben dort, ja, auch dort, als Dichter erlebt und der davon singen können wird.» 

Daran, dass das Leben selbst im Schrecken Momente der Schönheit, vielleicht sogar des Glücks bereithält, hielt Hillesum mit einer zuweilen verstörenden, trotzigen Gewissheit fest: «Wir haben dieses Lager singend verlassen», notierte sie auf eine Postkarte, die sie am 7. September 1943 aus dem Zug warf. Im Rucksack hatte sie ein russisches Wörterbuch, Tolstoi und die Bibel.

Lesen und diskutieren

Auf Initiative von Pfarrerin Verena Mühlethaler, die sich schon lange mit Etty Hillesum, «dieser spannenden Persönlichkeit mit ihrer tiefen Spiritualität», befasst, finden vier Gesprächsabende zu den Tagebüchern statt. Im Salon Bullinger an der Bullingerstrasse 8 in Zürich wird gelesen und diskutiert.

Gesprächsreihe: 28.6, 30.8., 27.9., 29.11., jeweils 20 Uhr. Anmeldung: verena.muehlethaler@reformiert-zuerich.ch

Hillesum schrieb ihre Tagebücher einerseits zur Analyse ihrer selbst, sie rang um Erkenntnisse über die eigene Identität und mit den Meinungen ihrer Wegbegleiter, andererseits – und da sind wieder die ineinanderverwobenen Ebenen – immer mit Blick auf eine potenzielle Leserschaft. Sie probierte Schreibstile aus, suchte, entwickelte ihre eigene literarische Sprache. 

Zwar geht es meistens um Spiritualität, wenn sie Rilke explizit rezipiert. Dessen Bild vom berufenen Dichter, der mit der Welt mitfühlt, scheint aber auch ihre Vorstellung vom Schreiben zu durchdringen.

Das grosse Gebet

So notierte sie im Oktober 1943, als sie krank in ihrem Bett lag, sich schonen wollte und sich im Dialog mit Gott vergeblich das Tagebuchschreiben verbat: «Ich möchte das denkende Herz eines ganzen Konzentrationslagers sein.»

Die Mystik als persönliche Gottesbeziehung und individuelle spirituelle Erfahrung, als Entdecken des göttlichen Funkens in sich selbst, bedeutete für Hillesum nie den Rückzug aus der Welt. Vielmehr erwuchs aus ihrer Einkehr der starke Wille, «ein einziges grosses Gebet» zu sein, und die Kraft zur Hingabe, um tätig zu werden und Nächstenliebe zu leben in einer vom Hass vergifteten Welt.

Etty Hillesum: Ich will die Chronistin dieser Zeit werden. Sämtliche Tagebücher und Briefe. Herausgegeben von von Pierre Bühler. Aus dem Niederländischen von Christina Siever und Simone Schroth. C.H. Beck, 2023, 987 Seiten