Sie murmelt, spricht und schreit. Mit halb geschlossenen Augen bewegt sie ihren Körper rhythmisch hin und her. Scheinbar unkontrolliert kommen die Laute aus ihr heraus. Die Silben und Wortfetzen hören sich an wie eine echte, aber unverständliche Sprache. Auf Youtube finden sich Dutzende solcher Szenen: Menschen, die tranceartig vor sich hinreden, umgeben von Glaubensgenossen, die Teil haben wollen am ausserordentlichen Ereignis, das man Zungenrede, Zungengebet oder Glossolalie nennt.
Diesem Phänomen begegnet man vorab in Gottesdiensten der Pfingstgemeinden, bei denen es auch mal emotional und enthusiastisch zugehen kann. Für Pfingstler ist der Austausch mit dem Heiligen Geist zentraler Aspekt des Glaubens. Und durch die sogenannten Geistesgaben, zu denen auch die Zungenrede gehört, spricht Gott zu ihnen. «Zungenrede während eines Gottesdienstes oder eines Gebets wird als Manifestation der Gegenwart des Heiligen Geistes gedeutet», sagt René Keller, der seit drei Jahren kritischer Besucher einer Pfingstgemeinde ist. Doch werde die Zungenrede unterschiedlich bewertet, auch innerhalb der (frei-)kirchlichen Szene: Für manche sei sie ein Zeichen besonderer Frömmigkeit und ein Muss für jeden «geistgetauften» Christen. Wem es nicht «zufällt», werde das Erlernen dieser Geistessprache angeboten. Das könne Betroffene unter Druck setzen, weil es nicht immer funktioniere, so der Seelsorger. «Ich selber habe diese Gabe nicht und habe trotzdem einen guten Zugang zu Gott. Man sollte die Fähigkeit, in Zungen zu sprechen, nicht überbewerten.»
Übersetzung für alle
In der Bibel beginnt die Geschichte der Glossolalie mit dem Pfingstwunder. Den Jüngern «erschienen Zungen wie von Feuer», heisst es im Neuen Testament. «Und sie begannen in fremden Sprachen zu sprechen.» (Kasten) Ob die Apostel damals tatsächlich in (real existierenden) Sprachen redeten, die sie nie gelernt hatten, findet der Bibelwissenschaftler Jörg Lanckau nicht entscheidend. Das Pfingstereignis beschreibe vielmehr die Absicht, Gottes Botschaft in die Welt zu bringen. «Das Wort Gottes sollte damit für alle Menschen verständlich gemacht werden. Es ist eine bis heute andauernde Übersetzung in alle Sprachen und Kulturen, mit der die weltweite Verbreitung des Evangeliums begonnen hat.»
Heilendes Zungengebet
Peter Jans ist Mitglied der katholischen Pfarrei St. Paul in Luzern und organisiert Heilungsgottesdienste. Für ihn hat Glossolalie etwas Heilendes. «Wenn ich mich im Gedankenkarussell verliere, dann fange ich ein ‹Brabbel-Gebet› an.» Er überliste damit seine negativen Muster. «Wir kopflastigen Menschen sollten mal loslassen und im Fluss der undefinierbaren Worte Gott Raum geben. So kommen wir mit ihm in ein vertrauensvolles Gespräch, und der Heilige Geist bestärkt uns.»
Zurückhaltung bei den Reformierten
In den reformierten Landeskirchen spielt die Zungenrede kaum eine Rolle, erklärt Theologe Matthias Zeindler, auch wenn es einzelne Gemeinden gebe, in denen sie im Rahmen von Lobpreisgottesdiensten vorkomme. Eine grundsätzliche Ablehnung ortet er im landeskirchlichen Umfeld jedoch nicht. Die Zurückhaltung liege eher darin, dass enthusiastische Formen wie Zungengebete nicht gut zur nüchternen, am Wort orientierten reformierten Spiritualität passe. «Aber sie kann schönes Zeugnis sein für ein Wirken Gottes, das stärker ist als wir.» Katharina Kilchenmann