Recherche 10. Juni 2021, von Christa Amstutz Gafner

Ein Chopin-Walzer für die Seele

Kirchenmusik

Sacha Rüegg lädt einmal in der Woche zur «Musikalischen Seelsorge» ein. Die Idee dazu kam ihm während der Pandemie, als der Gesang in der Kirche verstummte. 

Sechs Stühle stehen im Halbkreis um den schwarz glänzenden Flügel in der bis auf die wenigen Kirchenbänke leeren Kirche St. Jakob in Zürich. «Etwas Entspannendes» wünscht sich die erste Besucherin.  

Sacha Rüegg wählt einen Walzer von Chopin. Schon nach den ersten Klängen ist der Verkehrslärm am Stauffacher im Hintergrund nicht mehr zu hören. Mit geschlossenen Augen geniesst die ältere Frau die kleine Chopin-Reihe, die der Organist und Kantor mit dem Regentropfen-Prélude beschliesst.

Auf die Menschen eingehen

«Musikalische Seelsorge» lautet der Titel des Angebots, das Rüegg jeden Dienstag ab 13.15 Uhr für eine Stunde anbietet. Die Idee kam dem Musiker im Lockdown. «Die Kirchenmusik verstummte, wir begegneten niemandem mehr.»  

Während die Pfarrerinnen und Pfarrer ihr Seelsorgeangebot laufend den Umständen anpassten und auch ausbauten, spielte er für Online-Gottesdienste und betreute seine Chöre per Zoom. Die Livemusik habe ihm und vielen Menschen in den Kirchgemeinden im letzten Jahr sehr gefehlt, sagt Rüegg.  

Dass Musik die Seele bewegt, erfährt er selbst immer wieder neu. «Wenn ich etwa langsame, tiefgründige Klaviersätze von Beethoven spiele, bin ich gestärkt, begegne allem, was kommt, viel gelassener.» Über sein Angebot hat er die Überschrift gesetzt: «Musik kann vielleicht nicht die Welt retten, aber deine Seele». Wichtig ist Sacha Rüegg, in dieser Zeit nicht einfach ein Konzert zu spielen, sondern auf die Menschen wirklich einzugehen.  

Inzwischen hat er mit dem neuen Format Erfahrungen gesammelt. Zum Beispiel, dass die ursprüngliche Idee, die Leute einzeln zu empfangen, meist nicht funktioniert. «Die Leute bleiben sitzen, und viele sagen, dass sie Musik gerade in der Gemeinschaft geniessen.» 

Für sein musikalisches Seelsorgeangebot hat Sacha Rüegg ein Repertoire vorbereitet, geordnet nach Stimmungen und Emotionen. Und auch nach Jahreszeiten oder nach Farben: Rot für Feuer und Energie, Grün für Ruhe und Entspannung, Schwarz für die Trauer, Blau für den Himmel, das Wasser, das Zerfliessen, Silber und Gold für königliche Gefühle. Trotzdem dient ihm die Vorbereitung nur als Gerüst. «Oft bin ich überrascht von den Wünschen der Leute, der Stimmung.» 

Manchmal improvisiert der Musiker einfach. Und er setzt sich für Besucherinnen und Besucher nicht nur ans Klavier, sondern spielt Orgel oder Cembalo. «Schön ist auch, wenn wir zusammen singen.»

Von der Innigkeit erfüllt

Schon vor der Halbzeit der musikalischen Seelsorgestunde ist der Kirchenraum erfüllt von Innigkeit. Die Musik rührt wirklich die Seele an. Und ob noch mehr Leute kommen oder es bei der einen Frau bleibt, spielt keine Rolle. In dieser Zuwendung liegt wohl auch der Zauber des Angebotes von Sacha Rüegg.  

Die Besucherin hat eine zusammengefaltete Decke aus ihrer Tasche als Kissen auf den Holzstuhl geholt. Und auf dem Weg dahin ein paar Tanzschritte eingelegt. «Diese Musik hat mich sehr berührt», sagt sie nach einem Stück von Erik Satie. «Ja, es ist eindrücklich», erwidert Rüegg, «so wenige Noten und doch so viel Kraft.»  

Gymnopedie von Erik Satie

Improvisation von Sacha Rüegg

«Da ist alles drin, was die Seele braucht»

«Da ist alles drin, was die Seele braucht»

«Musik begleitet mich ständig in allen Lebenslagen, es ist nicht einfach, eine Wahl zu treffen. Natürlich landet man dann doch bei gewissen Komponisten, die einem besonders wichtig sind. Für mich ist das Johannes Brahms. Seine Musik verfügt über eine unglaubliche Tiefe. Sie berührt immer, ob es einem jetzt gut oder schlecht geht. Wenn ich mich spontan für ein Werk von ihm entscheiden müsste, würde ich die Violinsonate in G-Dur wählen, vor allem den Anfang. Da ist alles drin, was man für die Seele braucht.»

Gerda Dillmann ist Organistin an der reformierten Kirche Thalwil.

Brahms – Violinensonate in G-Dur

«Viele Lieder sind ein stärkendes Gebet»

«Viele Lieder sind ein stärkendes Gebet»

«Ich schliesse derzeit das Studium in Kirchenmusik und Chorleitung ab. Dafür befasse ich mich etwa mit Felix Mendelssohns ‹Zum Abend-segen›. Dieses Lied mit dem vierstimmigen Ruf ‹Herr, sei gnädig› berührt mein Herz immer wieder. Aber ich mag auch Worship-Songs. Im Moment höre ich oft ‹Potter’s Hand› von Hillsong Worship. Mir gefällt die Vorstellung von Gott als Töpfer. Auch dieses Lied ist ein Gebet. Die Musik ist einfacher, doch gerade so können wir mehr Leute aus der Gemeinde miteinbeziehen.»

Guilherme Roberto ist Kantor an der reformierten Kirche Egg.

The Potter's Hand - Hillsong Worship

«Gemeinsames Singen gibt so viel Zuversicht»

«Gemeinsames Singen gibt so viel Zuversicht»

«Musik wirkt auf zweierlei Arten: Durchs Hören und durchs gemeinsame Spielen und Singen. Als Hörerin lande ich immer wieder bei Johann Sebastian Bach. Seine ‹Matthäus-Passion› hat mich bereits als kleines Kind traurig gemacht und zugleich getröstet. Als Chorleiterin erlebe ich, wie viel Geborgenheit und Zuversicht gemeinsames Singen gibt. Und das oft unabhängig von der Liedwahl. Diese verbindende Kraft spüre ich zum Beispiel, wenn wir ‹Der Tag, mein Gott, ist nun vergangen› (RG 605) singen.»

Carmen Reverdin ist Kantorin an der reformierten Kirche Winterthur-Töss

Der Tag mein Gott ist nun vergangen (RG 605)

«Die Gegenwart wird weit, der Tanz beginnt»

«Die Gegenwart wird weit, der Tanz beginnt»

«Für die Musik gilt: live, Hauptsache live, jetzt, nach dem Streamen in der Pandemie! Und wenn eine Aufnahme, dann eine hervorragende Studioproduktion wie etwa Albin Bruns Album ‹Nah-Aufnahmen› mit Schwyzerörgeli, Tuba und Schlagzeug. Sie trifft den Ton zwischen Melancholie und Zuversicht, Vergangenheit und Zukunft: Die Gegenwart wird weit, die Gedanken öffnen sich, der Tanz beginnt. Der Titel des dritten Tracks ist Programm: ‹X.E.U.V.S.A.B.› Das steht für: I gseh uf aues abe.» 

Peter Freitag ist Organist und Kantor an der reformierten Kirche Uster.

Musik vom Albin Brun Alpin Ensemble