Als Seraina Hintermann-Famos an einem Dezembertag 2001 das Unispital Basel verliess, lag ihre Zukunft in Scherben. Minuten zuvor hatte sie, damals 37, einem Neurologen gegenübergesessen. Niemand hatte ihr geraten, zur Besprechung der Untersuchungsresultate eine vertraute Person mitzunehmen, und so lauschte sie allein den erschütternden Worten des Arztes: Dass sie an der schwersten Form von Multipler Sklerose erkrankt sei, bei der sich ihr Zustand stetig verschlechtere.
Auf dem Heimweg kam ihr der Gedanke, sich von einer Brücke zu stürzen. Doch dann tauchte plötzlich diese Erinnerung auf an den Bibelvers auf einem Spruchkärtchen, das sie im Gottesdienst Anfang des Jahres gezogen hatte: «Der Herr ist nahe denen, die zerbrochenen Herzens sind» (Psalm 34,19).
Jeder Tag ein Hürdenlauf
22 Jahre später sitzt Seraina Hintermann, inzwischen 59, im Rollstuhl am Küchentisch im Pfarrhaus von Schöftland. Es ist Mitte September. Gemeinsam mit ihrem Mann Daniel, ihrer Freundin Vera Schindler-Wunderlich und der IV-Assistentin Jenny Hunziker geniesst sie den Rest eines Erdbeerdesserts vom Geburtstag ihres Sohns am Tag zuvor.
Das Leben der Pfarrersfrau ist beschwerlich geworden. Die Arbeit als Psychologin und Logotherapeutin musste sie vor drei Jahren aufgeben. Sprechen kostet sie viel Kraft, ihre Gliedmassen vermag sie nicht mehr zu bewegen. Den Tee im Glas vor ihr auf dem Tisch trinkt sie per Strohhalm. Fünf Liter sollten es am Tag sein – einer von unzähligen Kraftakten, die ihr jeden Morgen aufs Neue bevorstehen.
Grosse und kleine Kraftquellen
Trotz allem gibt es Tage wie heute, wo Momente der Freude alles andere verdrängen. Die vier am Tisch haben etwas zu feiern. Am Morgen brachte der Briefträger ein grosses Paket, es liegt geöffnet auf dem Küchentisch, voller frisch gedruckter Bücher. «Vogel ohne Flügel» ist vor wenigen Tagen erschienen. Offen und ungeschönt erzählt Seraina Hintermann darin ihre Lebensgeschichte, die mit der MS-Diagnose zu einer langen, harten Prüfung wurde. Sie berichtet von Nächten, in denen sie unbeweglich Krämpfe in den Beinen aushalten muss. Von den Schamgefühlen, wenn sie von fremden Pflegerinnen gewaschen wird. Von Abhängigkeit und Angst sowie vielen anderen Herausforderungen, die immer zahlreicher werden.
Seraina Hintermann schreibt jedoch nicht aus einer Opferperspektive, im Gegenteil. Das Buch ist ein beeindruckendes Zeugnis ihres enormen Willens, der Krankheit Positives abzugewinnen. Sie schöpft aus vielen Kraftquellen: ihre Familie, die Natur, Radio SRF 1, der Klang der Kirchenglocken, das Schnurren der Katze auf dem Bett.