Recherche 27. Oktober 2023, von Anouk Holthuizen

Beeindruckendes Zeugnis von Willenskraft und Liebe

Literatur

Seraina Hintermann-Famos lebt seit 22 Jahren mit Multipler Sklerose. Über ihren schwierigen Lebensweg hat die Psychologin und Pfarrersfrau ein kraftvolles Buch geschrieben.

Als Seraina Hintermann-Famos an einem Dezembertag 2001 das Unispital Basel verliess, lag ihre Zukunft in Scherben. Minuten zuvor hatte sie, damals 37, einem Neurologen gegenübergesessen. Niemand hatte ihr geraten, zur Besprechung der Untersuchungsresultate eine vertraute Person mitzunehmen, und so lauschte sie allein den erschütternden Worten des Arztes: Dass sie an der schwersten Form von Multipler Sklerose erkrankt sei, bei der sich ihr Zustand stetig verschlechtere.  

Auf dem Heimweg kam ihr der Gedanke, sich von einer Brücke zu stürzen. Doch dann tauchte plötzlich diese Erinnerung auf an den Bibelvers auf einem Spruchkärtchen, das sie im Gottesdienst Anfang des Jahres gezogen hatte: «Der Herr ist nahe denen, die zerbrochenen Herzens sind» (Psalm 34,19).

Jeder Tag ein Hürdenlauf 
22 Jahre später sitzt Seraina Hintermann, inzwischen 59, im Rollstuhl am Küchentisch im Pfarrhaus von Schöftland. Es ist Mitte September. Gemeinsam mit ihrem Mann Daniel, ihrer Freundin Vera Schindler-Wunderlich und der IV-Assistentin Jenny Hunziker geniesst sie den Rest eines Erdbeerdesserts vom Geburtstag ihres Sohns am Tag zuvor.  

Das Leben der Pfarrersfrau ist beschwerlich geworden. Die Arbeit als Psychologin und Logotherapeutin musste sie vor drei Jahren aufgeben. Sprechen kostet sie viel Kraft, ihre Gliedmassen vermag sie nicht mehr zu bewegen. Den Tee im Glas vor ihr auf dem Tisch trinkt sie per Strohhalm. Fünf Liter sollten es am Tag sein – einer von unzähligen Kraftakten, die ihr jeden Morgen aufs Neue bevorstehen. 

Grosse und kleine Kraftquellen
Trotz allem gibt es Tage wie heute, wo Momente der Freude alles andere verdrängen. Die vier am Tisch haben etwas zu feiern. Am Morgen brachte der Briefträger ein grosses Paket, es liegt geöffnet auf dem Küchentisch, voller frisch gedruckter Bücher. «Vogel ohne Flügel» ist vor wenigen Tagen erschienen. Offen und ungeschönt erzählt Seraina Hintermann darin ihre Lebensgeschichte, die mit der MS-Diagnose zu einer langen, harten Prüfung wurde. Sie berichtet von Nächten, in denen sie unbeweglich Krämpfe in den Beinen aushalten muss. Von den Schamgefühlen, wenn sie von fremden Pflegerinnen gewaschen wird. Von Abhängigkeit und Angst sowie vielen anderen Herausforderungen, die immer zahlreicher werden. 

Seraina Hintermann schreibt jedoch nicht aus einer Opferperspektive, im Gegenteil. Das Buch ist ein beeindruckendes Zeugnis ihres enormen Willens, der Krankheit Positives abzugewinnen. Sie schöpft aus vielen Kraftquellen: ihre Familie, die Natur, Radio SRF 1, der Klang der Kirchenglocken, das Schnurren der Katze auf dem Bett.

Ich wollte Gott mehrmals aufgeben, doch er lässt mich einfach nicht los.
Seraina Hintermann-Famos

Vorbild Viktor Frankl
Ein starker Boden ist für sie die Logotherapie, die der jüdische Neurologe und Psychiater Viktor Frankl begründet hat. Frankl selbst gab angesichts der Grausamkeit in den Konzentrationslagern, in die er deportiert worden war, seinen Glauben an die Sinnhaftigkeit seines Lebens nie auf. Das macht auch Seraina Hintermann nicht. Sie schreibt im Buch: «Wenn ich gemäss Logotherapie davon ausgehe, dass das Leben grundsätzlich sinnvoll ist, dann ist das eine Konstante, an der sich nichts ändert – auch wenn sich mir Schwierigkeiten in den Weg stellen». Immer wieder übt sie, ihre Gedanken von den Sorgen wegzusteuern und eine positive Haltung zu finden. Häufig gelingt es, jedoch längst nicht immer.   

Ihren stärksten Halt findet Seraina Hintermann im Glauben an Gott. Täglich betet sie, hält mit Gott Zwiesprache, lauscht der Hörbibel. Immer wieder hadert sie, zweifelt am Heilsversprechen, auch an Gottes Existenz. Sie schreibt, dass sie immer wieder bete, nach dem Schlafen nicht mehr aufzuwachen, doch Gott erfülle ihr diesen Wunsch nicht. Darauf angesprochen, sagt sie am Küchentisch leise, aber mit grossen, leuchtenden Augen: «Ich wollte Gott mehrmals aufgeben, aber er lässt mich nicht los!» Sie spüre trotz allem immer wieder, dass er da ist. 

Auch ihr Mann, der Pfarrer, hadert
Auch ihr Ehemann, der dank dem Teilzeitpensum im Pfarramt und einem Team von vier IV-Assistentinnen seine Frau unterstützen kann, den Alltag und die Nächte zu bewältigen, zweifelt zuweilen radikal. Er erzählt: «Ich habe mich darum oft gefragt, ob ich meinen Beruf überhaupt noch ausüben kann.» Aber gerade indem er zugebe, nicht alles zu verstehen und durch die Krankheit seiner Frau sein Glauben manchmal wanke, helfe dies Menschen in der Kirchgemeinde, sich zu öffnen und von eigenen Nöten, Fragen und Zweifeln zu sprechen. «Unsere Gemeinde erfahre ich als tragfähiges Beziehungsnetz, und darin erlebe ich, dass Gott es trotz allem wohl gut mit uns meint.»

Ich habe mich darum oft gefragt, ob ich meinen Beruf überhaupt noch ausüben kann.
Daniel Hintermann

Eine Liebeserklärung 
Die Kraft von «Vogel ohne Flügel» liegt auch darin, dass es eine berührende Liebesgeschichte ist. Von einem Paar, das auf einer Reise nach Florenz anlässlich von zehn Jahren Ehe Vorboten der Krankheit erlebt, als Seraina Hintermann ungewöhnlich häufig stolpert. Das gemeinsam durch ein Leben geht, das es sich so anders vorgestellt hatte. Das Liebeslied «Vogel ohni Flügel» von Peter Reber, das dem Buch seinen Titel gegeben hat, widmet sie im dritten Teil ihrem Mann. 

Seraina Hintermanns tragende Beziehungen spielten in der Entstehung des Buchs eine wichtige Rolle. Involviert waren neben ihrem Mann und Jenny Hunziker, mit der sie eine erste Fassung zusammenstellte, vor allem Vera Schindler-Wunderlich, Lyrikerin und Lektorin, mit der sie sich über ein Jahr regelmässig traf, um dem Buch die jetzige Form zu geben. Inzwischen konnte sie nicht mehr selbst schreiben, undauch nicht diktieren. Sie sagt dankbar: «Geduldig und engagiert diskutierte und formulierte Vera mit mir Satz für Satz.» Das Vorwort verfasste ihre Schwägerin Rita Famos, Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz. 

Seraina Hintermann-Famos, mit Vera Schindler-Wunderlich: Vogel ohne Flügel. Fontis, 2023, 152 S., Fr. 26.90