Verena
Mühlethaler, Pfarrerin an der Offenen Kirche St. Jakob, engagiert sich seit
Jahren im Netzwerk Migrationscharta. Kirchenasyle seien «weder eine Hexerei
noch eine Zauberei», betont die Mitinitiantin und Gastgeberin der gut besuchten
Konferenz zum Kirchenasyl gleich zu Beginn – es brauche sie aber, um dem
christlichen Auftrag, die Menschenwürde zu bewahren gerecht zu werden: «Wir
erhalten wöchentlich verzweifelte Anfragen», sagt sie. Eine Aussage, die im
Verlaufe des Nachmittags vor den rund 100 Interessierten, die ins Zürcher
Kirchgemeindehaus Offener St. Jakob gekommen waren, mehrmals wiederholt
wird.
Mühlethaler hat
Erfahrungen mit der Gewährung und Durchführung von Kirchenasylen. Nötig wurde
es etwa im Fall einer eritreischen Frau, die im Rahmen des Schengen-Abkommens
nach Italien zurückgeschafft werden sollte, obwohl sie inzwischen von einem
eritreischen Flüchtling in der Schweiz ein Kind bekam; weil er hier eine
F-Bewilligung besass und ein Familiennachzug mit einer F-Bewilligung nicht
möglich ist, wäre die Familie für immer auseinandergerissen wo
Die formalistisch
korrekte Rechtsanwendung durch den Rechtsstaat zeitigt eben ab und an
unmenschliche Resultate. Und das ist der Moment, wo das Kirchenasyl als letztes
Mittel zum Zug kommen kann. Es darf aber nur dann in Anspruch genommen werden,
wenn alle anderen Schritte im rechtsstaatlichen Verfahren erfolglos geblieben
sind. Und es soll vor allem Zeit verschaffen für den Dialog mit den Behörden,
damit die Konsequenzen für die Geflüchteten im Einzelfall noch einmal überprüft
werden können.
«Das biblische
Gebot, Fremde und Flüchtlinge zu schützen, führt Kirchgemeinden dazu, in ihren
Räumlichkeiten Menschen, die durch staatliche Entscheidungen gefährdet sind,
zeitlich befristet Zuflucht und seelsorgerliche Begleitung zu gewähren», heisst
es dazu in einer Checkliste des Netzwerks Migrationscharta. Biblisch begründen
lässt sich ein solches Zufluchtsrecht, bzw. die Pflicht es zu gewähren, durch
viele Stellen im Evangelium. Gern dafür herangezogen: «Wie ein Einheimischer
soll euch der Fremde gelten, der bei euch lebt. Und du sollst ihn
lieben wie dich selbst ...» (Lev 19,33f.)
Zudem steht das
Kirchenasyl in einer langen Tradition. Das griechische Wort Asyl stammt vom
Verb sulan ab, was «plündern, rauben» bedeutet – das «a-sulon» bezeichnet einen
Ort, wo nicht geraubt oder verfolgt werden darf. Schon in der Antike und im
Alten Testament bildeten Tempel und Heiligtümer solche Asyle, im Mittelalter
übernahmen Kirchen und Klöster diese Funktion. Im Englischen bezeichnet das
Wort Sanctuary, einen heiligen Raum, der für jene, die sich dort aufhalten,
eine Schutzfunktion hat.
Mit dem
«Sanctuary Movement» versuchten die Kirchen in den USA in den 80er-Jahren, den
vor den Bürgerkriegen in Mittelamerika Geflüchteten in ihren Kirchen einen
sicheren Hafen einzurichten. Auf dem Höhepunkt beherbergten rund 500
Sanctuaries verscheidenster Konfessionen Tausende Geflüchtete und erkämpften so
die Einführung eines Asylrechts in den USA. Die Bewegung schwappte auch nach
Europa über.
Laut dem emeritierten
Theologieprofessor Pierre Bühler lässt sich ein Recht zum Kirchenasyl auch aus
dem prophetischen Wächteramt der Kirche ableiten. Etwa aus Art. 4 der Zürcher
Kirchenordnung, wonach die Landeskirche eintritt «für die Würde des Menschen,
die Ehrfurcht vor dem Leben und die Bewahrung der Schöpfung.» Die Kirchen
akzeptieren den Rechtsstaat, es kann aber vorkommen, dass der Staat bei der
Rechtsanwendung gegen seine eigenen Rechtsprinzipien (Menschenrechte,
Menschenwürde, übertriebene Härte) verstösst.
Das netzwerk
migrationscharta.ch sieht das Kirchenasyl in diesem Fall als legitime Praxis
an, ja als Pflicht. Bühler zitiert in diesem Zusammenhang den Theologen
Dietrich Bonhoeffer, der angesichts der Judenverfolgung von der Kirche
forderte, zu mahnen, die Opfer zu pflegen und Widerstand zu leisten. «Wenn alle
möglichen, rechtlich gewährten Wächteramtsmassnahmen ausgeschöpft sind, kann es
angesichts grossen Unrechts eine Pflicht geben, dem Staat in die Speichen zu
fallen.»
Heute geht es
meist darum, verletzliche Personen zu schützen, für die eine Rückschaffung in
ein Dublinland (EU-Staaten, plus Island, Norwegen, Liechtenstein, Schweiz) unzumutbar
wäre: traumatisierte, psychisch Labile, oder suizidal Gefährdete sowie Familien
mit Kindern. «Die können wir nicht einfach in Länder wie Italien oder Kroatien
zurückschicken», sagt Verena Mühlethaler.
Trotz drängender
Not ist Verena Mühlethalers Zürcher Kirchenkreis vier fünf, im ganzen Kanton
praktisch die einzige Kirchgemeinde, die Kirchenasyle gewährt. «Das kann es
doch nicht sein», sagt Mühlethaler. Ihr Anliegen ist, dass mehr Gemeinden
Kirchenasyle gewähren: «Wenn wir wenigstens zehn Gemeinden im Kanton wären,
wäre das super.»
«Damit ein
Kirchenasyl schliesslich gelingt, braucht es gegenseitige Achtung
und Respekt, Klarheit über die Voraussetzungen und Bedingungen, gute
rechtliche und kommunikative Beratung sowie engagierte Menschen, die ein
gemeinsames Ziel mittragen und unterstützen», schreibt die reformierte Kirche des Kantons Zürichs auf
ihrer Webseite. Sie betreibt eine Fachstelle Kirchenasyl, welche abklärt, ob
wirklich alle im Rahmen des Rechtsstaates möglichen Massnahmen ausgeschöpft
sind.
Dazu heisst es auf zhref.ch unmissverständlich: «Kirchenasyl
als zeitlich befristete Schutzgewährung ist immer eine ultima ratio, ein
letztes Mittel, um drohende Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, und darf
nicht durch leichtfertige Anwendung missbraucht oder seiner Wirkung beraubt
werden.» In einigen Fällen soll es
der Fachstelle auch schon gelungen sein, dank «stiller Diplomatie» bei den
zuständigen Stellen menschenunwürdige Rückschaffungen zu verhindern, sodass ein
Kirchenasyl gar nicht nötig war.
Service für Kirchgemeinden:
* Das netzwerk
migrationscharta.ch hat eine Checkliste erarbeitet für Kirchgemeinden, die sich
mit dem Gedanken tragen, ein Kirchenasyl einzurichten.
* Die reformierte Kirche des Kantons Zürich
Kirchgemeinden berät Kirchgemeinden, die beabsichtigen, bedrohten
Menschen in ihren Räumen Schutz zu gewähren. Ansprechpartner ist Marc Bundi.
* Die Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche in Deutschland hat im letzten Jahr 40 Jahre Kirchenasyl gefeiert. Auf ihrer Webseite versammelt sie Praxisbeispiele und Informationen für Kirchgemeinden.