«Die Rückschaffungen nach Kroatien sind das Hauptproblem»

Kirchenasyl

Seit den 80ern gewährten Kirchen immer wieder Geflüchteten Unterschlupf, um sie vor den Folgen einer Rückschaffung zu schützen. Eine Tagung zum Kirchenasyl klärte die Hintergründe.

Die Einladung liess keine Zweifel daran offen, dass es hier um die ganz grossen Anliegen geht: den Schutz der Menschenwürde und den Schutz vor Lebensgefahr. Beides gehöre zum kirchlichen Kernauftrag und Kirchenasyle könnten einen Beitrag dazu leisten, diesen Auftrag zu verwirklichen. Das zumindest suggerierten die Zitate auf dem Flyer der Konferenz zum Thema Kirchenasyl vom 1. März, zu welcher das Netzwerk Migrationscharta Pfarrpersonen, kirchliche Behörden und engagierte Freiwillige eingeladen hatte.

Das Thema und das Tagungs-Programm stiessen auf breites Interesse, 130 Personen versammelten sich im Kirchgemeindehaus Offener St. Jakob, um sich die Referate anzuhören und die Informationslücken rund ums Kirchenasyl zu schliessen: Was ist das überhaupt? Warum und wann braucht es ein Asyl im Kirchenraum? Wie lässt es sich theologisch rechtfertigen, dass Kirchgemeinden in ihren Räumen Flüchtlinge beherbergen und so allenfalls einer Ausschaffung entziehen? Ist das überhaupt legal oder macht man sich dabei strafbar?

Widerstand und Widerspruch?

Ob und in welchen Fällen ein Kirchenasyl als letzte Zuflucht für Geflüchtete überhaupt zulässig ist, wird seit über 40 Jahren heiss debattiert. In den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts flüchteten vermehrt Chilenen, Türkinnen und Tamilen in die Schweiz und nach einer Verschärfung der Schweizer Asylpolitik diskutierten viele Kirchgemeinden hitzig die Pros und Contras der Aufnahme von Flüchtlingen in kirchlichen Räumen, um sie vor den Gefahren einer Heimschaffung in ein Land mit einem Unrechtsregime zu bewahren.

Es kam in kirchlichen Kreisen auch zu Verhaftungen von Pfarrpersonen, welche Flüchtlingen Unterschlupf gewährten. Eine Schrift des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds von 1988 mit dem Titel «Widerstand?» sah es damals sogar als notwendig an, dem Staat auch «zu widersprechen und zu widerstehen»: Zur christlichen Verantwortung gegenüber dem Staat gehöre auch «die Pflicht zur freien Prüfung, ob der Staat dem Frieden, der Freiheit und Gerechtigkeit der Menschen wahrhaftig dient», heisst es in der Broschüre rund um «Christen, Kirchen und Asyl».

Was passiert mit einer Kirche, die nicht mehr für Menschen da ist, die in Not, auf der Flucht, im Ringen um Leben, für sich, für ihre Kinder, mit ihren Kindern sind? […] Sie verliert Gottes Geist. Was passiert mit einer Kirche, aus der Gottes Geist verschwindet? Sie hörte auf Kirche zu sein.
Christian Stäblein, Flüchtlingsbischof der Evangelischen Kirche in Deutschland

Hilfe und Schutz vor menschenunwürdiger Behandlung

Ulrike La Gro von der Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche in Deutschland mag bei ihrem Gast-Referat an der Zürcher Tagung aber nicht von zivilem Ungehorsam oder Widerstand sprechen. Denn das Kirchenasyl richte sich ja nie gegen den Rechtsstaat, sondern sei immer ein Engagement für eine menschenwürdige Behandlung: «Selbst wenn wir in 30 Jahren ein komplett faires Asylverfahren haben sollten, wird es immer noch Menschen geben, die durch die Maschen fallen und unsere Hilfe brauchen», sagt sie. Die Tabelle, die sie dazu präsentiert, ist eindrücklich: In Deutschland gibt es derzeit rund 1200 Kirchenasyle mit 1800 Menschen. Es sind fast ausschliesslich Dublin III-Fälle; also Geflüchtete, die in einem anderen Dublin-Land ihren Fingerabdruck hinterlassen haben und dorthin zurückgeschafft werden sollen.

«Die der Dublin-III-Richtlinie zugrunde liegende Annahme, es gäbe in europäischen Ländern einheitliche Standards zur Aufnahme von Flüchtlingen, ist einfach falsch», sagt La Gro. Die Quoten der Anerkennung von Flüchtlingen aus verschiedenen Herkunftsländern seien sehr unterschiedlich. Sie spricht von der europäischen Asylpolitik als dem «Grossen Verschiebebahnhof»: «Während jedes Jahr tausende Flüchtlinge aus Deutschland im Rahmen des Dublin-Verfahrens abgeschoben werden, werden gleichzeitig tausende aus anderen europäischen Ländern nach Deutschland abgeschoben.» Dieses Hin- und Hergeschiebe beraube Menschen nach oft traumatischer und jahrelanger Flucht ihrer Zukunftsperspektiven.

Die Evangelische Kirche in Deutschland verfügt über einen Flüchtlingsbischof

La Gro war schon als Jugendliche in der christlichen Migrationsarbeit aktiv. Bei ihrer täglichen Arbeit orientiert sie sich heute gern an einem Zitat ihres Bischofs: «Was passiert mit einer Kirche, die nicht mehr für Menschen da ist, die in Not, auf der Flucht, im Ringen um Leben, für sich, für ihre Kinder, mit ihren Kindern sind? […] Sie verliert Gottes Geist. Verlöre. Was passiert mit einer Kirche, aus der Gottes Geist verschwindet? Sie hörte auf Kirche zu sein.» Christian Stäblein, der Flüchtlingsbischof der Evangelischen Kirche in Deutschland, hat so eine einleuchtende, simple Logik formuliert: Wenn die Kirche aufhört, sich für Geflüchtete zu engagieren, verpasst sie ihren Kernauftrag der Nächstenliebe, und dann verliert sie ihre Daseinsberechtigung.

Die Geschichte des Kirchenasyls der letzten 40 Jahre zeigt: Immer wieder waren und sind es andere Kategorien von Menschen auf der Flucht, die Unterstützung brauchen. Im Moment sind es auch hierzulande vor allem verletzliche Menschen, die via Kroatien nach Europa eingereist sind: «Besonders in Kroatien ist die Lage wirklich prekär: überfüllte Lager, ungenügende medizinische und psychische Versorgung», sagt Verena Mühlethaler. Die Pfarrerin im Kirchenkreis vier fünf engagiert sich seit Jahren im netzwerk migrationscharta.ch für Kirchenasyle. 

Wenn wir wenigstens zehn Gemeinden im Kanton wären, die Kirchenasyle gewähren, wäre das super.
Verena Mühlethaler, Pfarrerin im Zürcher Kirchenkreis vier fünf, engagiert sich für Kirchenasyle.

Ein Augenschein vor Ort und Beispiele aus der Praxis

Mühlethaler weiss wovon sie spricht, im Sommer 2023 war sie selbst an der Kroatischen Grenze, um sich ein Bild von der Lage vor Ort zu machen. Die «sehr tiefe Anerkennungsquote» sieht sie als weiteres Problem an: «2022 haben ausser ein paar Familien praktisch keine geflüchtete Menschen Asyl bekommen.»

Ein weiteres Problem: Viele Flüchtlinge haben an der kroatischen Grenze bereits Gewalt erfahren, und für sie ist es ein Schreckensszenario dorthin zurück zu müssen. Kürzlich erhielt sie beispielsweise einen Anruf von Queer Amnesty: Ein homosexuelles Paar aus Burundi war getrennt worden und der eine Partner nach einem Spitalaufenthalt gewaltsam ausgeschafft worden. «Von vielen solchen Fällen, wo das SEM knallhart durchgreift, erfahren wir gar nichts – oder sind zu spät.»

Weitere Praxis-Beispiele aus Bern betrafen eine Familie, die in Litauen in eine geschlossene Anstalt eingewiesen worden wäre oder einen jungen Lybier, der in seiner Heimat gefoltert worden war. In Luzern beherbergte man 2019 im Pfarrhaus eine tschetschenische Frau mit einer geistig zurückgebliebenen Tochter, um sie vor der Ausschaffung nach Belgien zu schützen. Insgesamt gab es in den letzten Jahren aber nur rund sieben Kirchenasyle in der Schweiz, die meisten davon fanden «still» statt, also ohne mediale Öffentlichkeit.

Am Ende herrscht Zuversicht

Verena Mühlethaler weist darauf hin, dass auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe das Staatliche Migrationsamt SEM dazu auffordert, auf Ausschaffungen nach Kroatien zu verzichten. Wie La Gro kritisiert auch sie die ganz verschiedene Einschätzung der Lage sowie die unterschiedliche Rückschaffungspraxis in Europa durch einzelne Länder

Am Ende der Kirchenasyl-Konferenz ist Verena Mühlethaler jedoch zuversichtlich, dass die Konferenz einen Impuls setzen konnte, damit mehr Menschen vor einer Ausschaffung geschützt werden können. Beim Apéro im Anschluss habe sie zudem viele ermutigende Rückmeldungen bekommen.

Was ist Kirchenasyl überhaupt? Wo und wann besteht Bedarf? Expertinnen gaben Auskunft.

Verena Mühlethaler, Pfarrerin an der Offenen Kirche St. Jakob, engagiert sich seit Jahren im Netzwerk Migrationscharta. Kirchenasyle seien «weder eine Hexerei noch eine Zauberei», betont die Mitinitiantin und Gastgeberin der gut besuchten Konferenz zum Kirchenasyl gleich zu Beginn – es brauche sie aber, um dem christlichen Auftrag, die Menschenwürde zu bewahren gerecht zu werden: «Wir erhalten wöchentlich verzweifelte Anfragen», sagt sie. Eine Aussage, die im Verlaufe des Nachmittags vor den rund 100 Interessierten, die ins Zürcher Kirchgemeindehaus Offener St. Jakob gekommen waren, mehrmals wiederholt wird.

Mühlethaler hat Erfahrungen mit der Gewährung und Durchführung von Kirchenasylen. Nötig wurde es etwa im Fall einer eritreischen Frau, die im Rahmen des Schengen-Abkommens nach Italien zurückgeschafft werden sollte, obwohl sie inzwischen von einem eritreischen Flüchtling in der Schweiz ein Kind bekam; weil er hier eine F-Bewilligung besass und ein Familiennachzug mit einer F-Bewilligung nicht möglich ist, wäre die Familie für immer auseinandergerissen wo

Die formalistisch korrekte Rechtsanwendung durch den Rechtsstaat zeitigt eben ab und an unmenschliche Resultate. Und das ist der Moment, wo das Kirchenasyl als letztes Mittel zum Zug kommen kann. Es darf aber nur dann in Anspruch genommen werden, wenn alle anderen Schritte im rechtsstaatlichen Verfahren erfolglos geblieben sind. Und es soll vor allem Zeit verschaffen für den Dialog mit den Behörden, damit die Konsequenzen für die Geflüchteten im Einzelfall noch einmal überprüft werden können.

«Das biblische Gebot, Fremde und Flüchtlinge zu schützen, führt Kirchgemeinden dazu, in ihren Räumlichkeiten Menschen, die durch staatliche Entscheidungen gefährdet sind, zeitlich befristet Zuflucht und seelsorgerliche Begleitung zu gewähren», heisst es dazu in einer Checkliste des Netzwerks Migrationscharta. Biblisch begründen lässt sich ein solches Zufluchtsrecht, bzw. die Pflicht es zu gewähren, durch viele Stellen im Evangelium. Gern dafür herangezogen: «Wie ein Einheimischer soll euch der Fremde gelten, der bei euch lebt. Und du sollst ihn lieben wie dich selbst ...» (Lev 19,33f.)

Zudem steht das Kirchenasyl in einer langen Tradition. Das griechische Wort Asyl stammt vom Verb sulan ab, was «plündern, rauben» bedeutet – das «a-sulon» bezeichnet einen Ort, wo nicht geraubt oder verfolgt werden darf. Schon in der Antike und im Alten Testament bildeten Tempel und Heiligtümer solche Asyle, im Mittelalter übernahmen Kirchen und Klöster diese Funktion. Im Englischen bezeichnet das Wort Sanctuary, einen heiligen Raum, der für jene, die sich dort aufhalten, eine Schutzfunktion hat.

Mit dem «Sanctuary Movement» versuchten die Kirchen in den USA in den 80er-Jahren, den vor den Bürgerkriegen in Mittelamerika Geflüchteten in ihren Kirchen einen sicheren Hafen einzurichten. Auf dem Höhepunkt beherbergten rund 500 Sanctuaries verscheidenster Konfessionen Tausende Geflüchtete und erkämpften so die Einführung eines Asylrechts in den USA. Die Bewegung schwappte auch nach Europa über.

Laut dem emeritierten Theologieprofessor Pierre Bühler lässt sich ein Recht zum Kirchenasyl auch aus dem prophetischen Wächteramt der Kirche ableiten. Etwa aus Art. 4 der Zürcher Kirchenordnung, wonach die Landeskirche eintritt «für die Würde des Menschen, die Ehrfurcht vor dem Leben und die Bewahrung der Schöpfung.» Die Kirchen akzeptieren den Rechtsstaat, es kann aber vorkommen, dass der Staat bei der Rechtsanwendung gegen seine eigenen Rechtsprinzipien (Menschenrechte, Menschenwürde, übertriebene Härte) verstösst.

Das netzwerk migrationscharta.ch sieht das Kirchenasyl in diesem Fall als legitime Praxis an, ja als Pflicht. Bühler zitiert in diesem Zusammenhang den Theologen Dietrich Bonhoeffer, der angesichts der Judenverfolgung von der Kirche forderte, zu mahnen, die Opfer zu pflegen und Widerstand zu leisten. «Wenn alle möglichen, rechtlich gewährten Wächteramtsmassnahmen ausgeschöpft sind, kann es angesichts grossen Unrechts eine Pflicht geben, dem Staat in die Speichen zu fallen.»

Heute geht es meist darum, verletzliche Personen zu schützen, für die eine Rückschaffung in ein Dublinland (EU-Staaten, plus Island, Norwegen, Liechtenstein, Schweiz) unzumutbar wäre: traumatisierte, psychisch Labile, oder suizidal Gefährdete sowie Familien mit Kindern. «Die können wir nicht einfach in Länder wie Italien oder Kroatien zurückschicken», sagt Verena Mühlethaler.

Trotz drängender Not ist Verena Mühlethalers Zürcher Kirchenkreis vier fünf, im ganzen Kanton praktisch die einzige Kirchgemeinde, die Kirchenasyle gewährt. «Das kann es doch nicht sein», sagt Mühlethaler. Ihr Anliegen ist, dass mehr Gemeinden Kirchenasyle gewähren: «Wenn wir wenigstens zehn Gemeinden im Kanton wären, wäre das super.»

«Damit ein Kirchenasyl schliesslich gelingt, braucht es gegenseitige Achtung und Respekt, Klarheit über die Voraussetzungen und Bedingungen, gute rechtliche und kommunikative Beratung sowie engagierte Menschen, die ein gemeinsames Ziel mittragen und unterstützen», schreibt die reformierte Kirche des Kantons Zürichs auf ihrer Webseite. Sie betreibt eine Fachstelle Kirchenasyl, welche abklärt, ob wirklich alle im Rahmen des Rechtsstaates möglichen Massnahmen ausgeschöpft sind.

Dazu heisst es auf zhref.ch unmissverständlich: «Kirchenasyl als zeitlich befristete Schutzgewährung ist immer eine ultima ratio, ein letztes Mittel, um drohende Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, und darf nicht durch leichtfertige Anwendung missbraucht oder seiner Wirkung beraubt werden.» In einigen Fällen soll es der Fachstelle auch schon gelungen sein, dank «stiller Diplomatie» bei den zuständigen Stellen menschenunwürdige Rückschaffungen zu verhindern, sodass ein Kirchenasyl gar nicht nötig war.

Service für Kirchgemeinden:

* Das netzwerk migrationscharta.ch hat eine Checkliste erarbeitet für Kirchgemeinden, die sich mit dem Gedanken tragen, ein Kirchenasyl einzurichten.

* Die reformierte Kirche des Kantons Zürich Kirchgemeinden berät Kirchgemeinden, die beabsichtigen, bedrohten Menschen in ihren Räumen Schutz zu gewähren. Ansprechpartner ist Marc Bundi.

* Die Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche in Deutschland hat im letzten Jahr 40 Jahre Kirchenasyl gefeiert. Auf ihrer Webseite versammelt sie Praxisbeispiele und Informationen für Kirchgemeinden.