Nadine Felix ist heute 48 Jahre alt. Ihre Geschichte ist kurz gefasst auf der Website des Vereins «Gesichter der Erinnerung» zu lesen. Denn sie ist eine der mehreren 100'000 Menschen in der Schweiz, die von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen betroffen waren.
Persönlichkeiten bringen Licht in ein dunkles Kapitel
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen: Das sperrige Wort betrifft viele Menschen in der Schweiz mit traurigen Folgen. Eine neue Stufe der Aufarbeitung wurde jetzt gestartet.
Sie erzählen ihre bewegenden Geschichten: Betroffene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen auf der neuen Website gesichter-der-erinnerung.ch. (Fotos: zvg)

Ein Teil von Nadine Felix’ Geschichte
«Ihre Mutter war Alkoholikerin, und als Baby überlebte sie nur, weil ihre beiden älteren Halbgeschwister für sie sorgten. Bald nach ihrer Geburt wurde sie von einem Ehepaar adoptiert. Was damals alles passiert war, erfuhr Nadine Felix jedoch erst im Alter von 35 Jahren, als sie ihre Herkunftsfamilie kennenlernte.
Bis sie 14 Jahre alt war, glaubte sie, bei ihren leiblichen Eltern aufzuwachsen. Als ihre Adoptiveltern sich trennten, wurde Nadine Felix unvorbereitet und mitten im 5. Schuljahr fremdplatziert. Nach einer Zeit in Chur (GR) kam sie mit 14 Jahren ins «Heim Hirslanden» (ZH). In einem Brief der Vormundschaftsbehörde Chur erfuhr sie, dass sie als Säugling adoptiert worden war.
Als sie in ein geschlossenes Erziehungsheim gebracht werden sollte, plante sie gemeinsam mit ihrem Freund eine Flucht – erfolglos: In Handschellen wurde sie auf die geschlossene Abteilung des «Loryheims» (BE) gebracht.
Nadine Felix wurde nie in Entscheidungsprozesse eingebunden. Nach ihren Bedürfnissen wurde sie nie gefragt, obwohl sie zahlreichen Fachpersonen begegnete und in unterschiedlichen therapeutischen Settings war.»
Diese und weitere Geschichten und Informationen gibt es auf der Website: gesichter-der-erinnerung.ch
Auf der neuen Website stehen die Erfahrungen der 32 Menschen im Zentrum. Auch Partnerinnen, Kinder und Fachleute kommen zu Wort. Durchgeführt wurden Fremdplatzierungen und Fürsorgemassnahmen unter Zwang von Behörden und mit Unterstützung privater und kirchlicher Organisationen und Einrichtungen. Es waren sozialpolitische Instrumente, um gesellschaftliche Normen und auch Moralvorstellungen durchzusetzen.
Die betroffenen Menschen erzählen eingängig und bewegend ihre Geschichten. Sie sagen, wie sie bis heute mit den Folgen zu kämpfen haben. Und sie erklären, wie sie trotz allem die Kraft gefunden haben, weiterzuleben – und wie es ihnen dabei ergangen ist. Besonders erschreckend ist, dass auch viele junge Menschen darunter sind. Das heisst: Der Erhalt der gesellschaftlichen Ordnung war in der Schweiz bis in die jüngste Zeit oft wichtiger als das Wohlergehen einzelner Menschen.
Neue Wege auf drei Ebenen
Loretta Seglias ist Historikerin und Mitglied des Kernteams des Projekts. Dieses gehe mit der Website auf drei Ebenen neue Wege, sagt sie: in der Herangehensweise, in der Perspektive und in der Umsetzung. Im Kernteam – zu dem auch MarieLies Birchler und Mario Delfino gehören – seien die Perspektive der Betroffenen von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen sowie jene der Geschichtswissenschaft vertreten. «Wir haben den partizipativen Ansatz konsequent angewandt, das Projekt gemeinsam entwickelt und umgesetzt. Dazu gehörte auch die Sicherstellung der Finanzierung», sagt Seglias.
Wer betroffen war
Mehrere 100’000 Menschen waren von Fürsorgemassnahmen unter Zwang betroffen, darunter vor allem Arme, Jenische, Suchtkranke, unverheiratete oder geschiedene Mütter und ihre Kinder, Waisen oder arbeitslose Männer. Jugendliche und Erwachsene, die die Behörden als «liederlich» oder «arbeitsscheu» einstuften, kamen ohne gerichtlichen Beschluss in eine «Arbeitsanstalt». In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert nahmen die Behörden vermehrt Jugendliche ins Visier, die neue Freiheiten für sich einforderten. Viele von ihnen wurden ebenfalls administrativ (d. h. ohne gegen das Strafgesetz verstossen zu haben) versorgt.
In psychiatrischen Kliniken und Spitälern sterilisierten die Ärzte Frauen und kastrierten Männer, um zu verhindern, dass sie Nachkommen haben würden. Andere Patienten und Patientinnen, teilweise auch Angestellte, wurden, ohne es zu wissen, für Versuche mit noch nicht zugelassenen Medikamenten missbraucht.
Weiter zentral sei es zu zeigen, welche Massnahmen es gab, wer davon betroffen war und wie diese nachwirken. Dafür hätten sie auch die Perspektive von Angehörigen und Berufspersonen einbezogen, erläutert die Historikerin. «Die Forschung geht von mehreren hunderttausend Betroffenen Kindern und Erwachsenen aus, die in Pflegefamilien und Heimen aufwuchsen, ohne Gerichtsurteil administrativ versorgt wurden oder Adoptionen, Sterilisationen oder Kastrationen unter Zwang erlebt haben.»
Als dritte neue Ebene bezeichnet Loretta Seglias das Medium. Damit werden diese Informationen leicht für viele zugänglich. «Das Internet ist heute eine wichtige Informationsquelle. Deshalb ist es wichtig, dass umfangreiche Informationen zum Thema digital zu finden sind.»
Möglichst breit erzählen
Auf der Website werden die digitalen Möglichkeiten ausgenützt, mit Texten, Bildern und Videos. Die Geschichten gehen nah und berühren, da sie direkt von den betroffenen Menschen erzählt werden und so Persönlichkeiten damit verknüpft werden können. Mit der Onlineplattform möchten die Initiantinnen und Initianten über ein wichtiges Stück Schweizer Sozialgeschichte informieren und für das Thema sensibilisieren, sagt Loretta Seglias. Deshalb hätten sie auch mit der Pädagogischen Hochschule Luzern zusammen öffentlich zugängliches Unterrichtsmaterial für Schulen erarbeitet.
Was die Evangelische Kirche Schweiz (EKS) tut
Die EKS hatte gemäss Michèle Graf-Kaiser von der Kommunikation Kontakt mit den Projektinitiantinnen und -initianten von «Gesichter der Erinnerung» und unterstützte die Umsetzung mit 5000 Franken. Doch bereits zuvor beteiligte sich die EKS bzw. der frühere Kirchenbund (SEK) an der Aufarbeitung der Geschichte der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen. Er wirkte am nationalen Runden Tisch mit und unterstützte verschiedene Arbeiten und Projekte, die darauf abzielten, das Bewusstsein in der Bevölkerung über dieses dunkle Kapitel in der Schweizer Sozialgeschichte zu stärken.
Die Unterstützung des neuen Projekts gehe in die gleiche Richtung, sagt Michèle Graf. Die EKS erachte den pädagogischen und cross-medialen Ansatz des Projekts als besonders vielversprechend, um zur weiteren Sensibilisierung der Gesellschaft beizutragen.
Im Landesmuseum, wo das Thema bereits in der Dauerausstellung präsent ist, konnte der Verein «Gesichter der Erinnerung» eine Medienstation konzipieren und umsetzen. Sie soll dazu beitragen, dass breiter über das Thema gesprochen wird. «Dazu gehört auch anzuerkennen, dass viele Betroffene nicht oder nicht mehr über das Erlebte sprechen können, und dass alle, die den Mut haben ihre Erfahrungen zu teilen, einen wichtigen Beitrag leisten», betont die Historikerin.
Was Kirchen weiter tun müssten
Die Rolle der Kirchen in diesem dunklen Kapitel der Schweizer Gesellschaft ist nicht rühmlich. Evangelische Akteurinnen und Akteure seien Teil der Praxis gewesen und hätten mitgeholfen, fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen umzusetzen, sagt Loretta Seglias. «Moralische Instanzen, wie ein Pfarrer, hatten in einem Dorf und bei sozialen Fragen grosses Gewicht. Sie konnten entscheidend dazu beitragen, ob eine Familie zusammenblieb oder nicht.»
Zudem betrieben evangelische Organisationen Kinderheime, vermittelten Pflegeplätze und übernahmen Aufsichtsaufgaben. Doch da sei weiter Forschung notwendig: «Wir wissen noch vergleichsweise wenig über diese Zusammenhänge im evangelischen Umfeld. Hier wären gezielte Studien wichtig, die gerade auch den konfessionellen Aspekt untersuchen, der lange wichtig war», hält Seglias fest. Auch die aktive Auseinandersetzung sieht sie als wichtigen Ansatz: zuhören, Betroffene einbeziehen und nach ihren Bedürfnissen gegenüber der reformierten Kirche fragen.
Podiumsgespräche
19. Oktober im Staatsarchiv Bern
20. Oktober im Staatsarchiv Basel-Landschaft
25. Oktober im Freiruum Zug
3. November in der Kantonsbibliothek Trogen
7. November im Staatsarchiv Basel-Stadt
8. November im Raum für Literatur St. Gallen
17. November im Staatsarchiv Solothurn
22. November im Staatsarchiv Uri
24. November im Staatsarchiv Thurgau
25. November in der Kantonsbibliothek Aargau
9. Dezember im Rätischen Museum Chur
30. März 2023 im Staatsarchiv Schaffhausen