Gotische Wunderwerke im Taschenformat

Kunstgeschichte

Das Berner Münster steht in sich selbst: Zusammen mit 17 anderen Modellen gotischer Kathedralen zeigt eine Ausstellung die Pracht des Stils auf einen Blick.

Für sein Tun hat er keinen rationalen Grund: Der 34-jährige Luciano Xavier dos Santos nennt es schlicht Leidenschaft, «la passion». Diese habe der gebürtige Brasilianer bereits als Jugendlicher in seiner Heimat entwickelt – auch wenn dort kein einziges Bauwerk der Gotik steht. Er absolvierte eine Ausbildung zum Bauzeichner und dann die Schule für Bildende Künste in Vitoria im Bundesstaat Espirito Santo. Und 2005 zeigte er in seiner ersten Ausstellung Modelle – von Wolkenkratzern.

Doch sein Herz schlägt fürs Mittelalter, sagt er selbst in mitten seiner Modelle gotischer Wunderwerke in der sogenannten Bubenberg-Kapelle neben dem Chorraum im Berner Münster. Dabei legt er sich die Hand auf die Brust und lächelt: «Während der Ausbildung erwachte meine Leidenschaft, vor allem für die Gotik, zuerst allein durch die Bilder in Büchern.»

Die Geburt der Notre-Dames

Vor acht Jahren zog es dos Santos nach Frankreich, wo sich während drei Jahren mit der mittelalterlichen Architektur beschäftigte. Die Notre-Dames von Frankreich prägen denn auch die Ausstellung der Modelle: Die Mehrzahl der Kirchen stehen in natura in Geburtsland des gotischen Baustils.

Seinen Ursprung hat er in der Klosterkirche von Saint-Denis in der Nähe von Paris. Ziel war, dass die Architektur selbst dem Menschen helfen sollte, sich Gott zu nähern. Dabei kamen mehrere konstruktive Neuerungen zum Einsatz: Spitzbogen, Rippengewölbe und Strebebögen.

Säulen, Bogen und Licht

Statt wie in der Romanik die Wände waren in der Gotik die Säulen die tragenden Elemente, sagt der Berner Münstersigrist Felix Gerber. Das habe es erlaubt, die Wände mit grossflächigen Fenstern zu durchbrechen und das Licht grosszügig in den Raum fliessen zu lassen – das Licht als Ausdruck des göttlichen Schöpfungswillens (Genesis), als Basis allen Lebens. Wann was beleuchtet wird, sei in der Regel geplant. Und schliesslich würden die monumentalen Türme und jede Fiale nach oben weisen und zugleich das irdisch-Schwere und himmlisch-Leichte betonen.

Für Gerber ist dos Santos’ Ausstellung ein Glücksfall: Die Modelle im Massstab 1:200 erlaubten eine direkte Vergleichbarkeit. «Schon nur dies ist eindrücklich und einzigartig», sagt der Sigrist. Und noch eindrücklicher sei es, im direkten Vergleich sehen zu können, welche Gestaltungsvielfalt die mittelalterlichen Werkmeister mit der Grundform des Kreuzes und den architektonisch-geometrischen Grundformen umgesetzt hätten.

Bis drei Monate für ein Modell

Einen bis drei Monate arbeitet Luciano Xavier dos Santos an einem Kirchenmodell. Zuerst studiere er Literatur, Fotos, Pläne, Masse, dann suche er die Kathedralen auf und fotografiere sie von möglichst vielen Blickwinkeln aus, erzählt der in Fribourg lebende Brasilianer. Dann folge die Atelierarbeit, während der er laufend die Vereinfachungen der in Naturgrösse viel detaillierteren Gebäudeteile umsetze. «Pläne muss ich für die Modelle keine mehr machen, die existieren ja schon», sagt dos Santos lachend.

Seine Lieblingskathedrale ist die Notre Dame von Amiens im Norden Frankreichs. Warum? «Schon nur die Ausmasse finde ich beeindruckend, es ist vom Volumen und von der Fläche her die grösse gotische Kirche von Frankreich.» Und schliesslich sei es auch einfach die unglaubliche Schönheit der Kunst – das, was er vermitteln will. Dos Santos bezeichnet das Modellbauen schlicht als sei Mittel des künstlerischen Ausdrucks.

Die Ausstellung im Berner Münster ist noch bis am 11. November geöffnet. Öffnungszeiten wie die Kirche.
Weitere Informationen: www.bernermuenster.ch