An vielen Stellen in der Bibel wird Gott als Richter beschrieben. In diesem Psalm wacht er gewissermassen über dem Recht der ganzen Welt: «Wenn die Zeit gekommen ist, halte ich gerechtes Gericht. (…) Gott ist Richter. Er erniedrigt den einen, den anderen erhöht er.» (Psalm 75,3+8) Laut dem Psalm wird Jahwe in seinem Gericht die «Gerechten» rehabilitieren und die «Frevler», die gegen seine Gebote verstossen haben, bestrafen. Hinter dieser Erwartung steht der im ganzen Alten Orient gültige Grundsatz, dass Tun und Ergehen sich entsprechen sollten.
Ein Gott, der richtet, urteilt und damit auch verurteilt, widerstrebt mir. Er verträgt sich schlecht mit dem Gott der Liebe, den die Bibel auch verkündet. Ich kann mit der Vorstellung wenig anfangen, dass eine allmächtige Instanz am Ende der Zeit (oder wann auch immer) den Daumen hoch oder runter hält. Mir kommt es vor, als würden wir Menschen damit die Verantwortung abschieben, uns sozial zu verhalten und selbst für Gerechtigkeit auf Erden zu sorgen. Wenn es Gott gibt, hat er oder sie bestimmt Besseres zu tun, als für uns Menschen die Polizistin zu spielen.
Trotz all diesen Vorbehalten lässt mich das Gottesbild nicht los. Denn darin steckt eine Sehnsucht, die ich sehr wohl nachvollziehen kann. Es ist die Sehnsucht, dass die grauenvollen Ungerechtigkeiten, die es auf der Welt gibt, einmal aufgehoben sein werden. Die Menschen, die heute unter Gewalt und Hass leiden, würden befreit werden. Und ihre Peiniger würden zumindest einmal gespiegelt bekommen, was sie angerichtet haben. So gesehen verheisst die göttliche Richterin eine Gerechtigkeit, von der wir nicht aufhören sollten zu träumen.