«Wir sind offen für alle Menschen»

Spiritual Care

Renata Aebi hat ein Indikatoren-Set mitentwickelt, das die Seelsorgearbeit im Spital noch sichtbarer machen soll. Vorgestellt wird es auf dem nationalen Palliative-Care-Kongress.

Angenommen, jemand liegt im Spital. Was bieten Seelsorgende in dieser Situation an?
Renata Aebi: Wenn die erkrankte Person im Spital, auf einer Palliativ-Station oder im Hospiz ist, bieten wir als Seelsorgende Gespräche an. Und zwar ganz unabhängig von der Weltanschauung oder Herkunft der jeweiligen Person. Das Seelsorgeangebot ist auch offen für Angehörige und nahestehende Menschen. Denn  wenn sich eine Familie mit einer schweren Erkrankung konfrontiert sieht, kann das tiefe, existenzielle Fragen aufwerfen.

Reformierte Seelsorgende sprechen also mit allen Personen, die das möchten?
Genau. Wichtig ist der Zusatz «die möchten». Es ist ein Angebot.

Was genau umfasst das Angebot?
Seelsorgende teilen die Fragen der Betroffenen und suchen mit ihnen nach ihren persönlichen Antworten. Dabei können die Spiritualität und der ganz persönliche Glaube eine Kraftquelle sein. Seit einigen Jahren wird in der Gesundheitsversorgung verstärkt auf die spirituell-religiöse Unterstützung Wert gelegt. Und die  Seelsorgenden stärken mit den Menschen all das, was ihnen Hoffnung und Vertrauen gibt. Und helfen in allem, was Sinn-Erleben unterstützt und die Würde stärkt.

Wie ist die Resonanz auf die Möglichkeit, mit Seelsorgenden zu sprechen?
Das Angebot wird offen und gern angenommen. Oft ist es noch wichtig, dass wir kleine Irritationen aus dem Weg räumen. Wir möchten niemanden religiös vereinnahmen. Ist das erst mal geklärt, dann erzählen Menschen von dem, was sie gerade beschäftigt, was ihnen in der Situation durch den Kopf geht.

Gibt es Forschungen, die den Wert von Seelsorge an erkrankten Menschen untersucht haben?
Es gibt eine recht breite internationale Forschung, die belegt, dass mit qualifizierter Seelsorge das Wohlbefinden und die Lebensqualität von erkrankten Menschen messbar verbessert werden können.

Ende November ist der nationale Palliative-Care-Kongress in Biel. Was ist genau Palliative Care?
Das ist ein ganzheitlicher medizinischer Betreuungsansatz. Er umfasst Behandlung, Pflege und Begleitung. Seit 2002 gibt es eine WHO-Definition für die Palliative Care, mit der Menschen betreut werden, die an einer lebenslimitierenden, unheilbaren Krankheit leiden. Es geht darum, die subjektive Lebensqualität der Menschen zu verbessern. Wie die Begründerin des Ansatzes Cicely Saunders sagte: «Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage, sondern den Tagen mehr Leben zu geben.» Schmerzlinderung ist einer der wichtigsten Punkte und eben auch psychosoziale und spirituelle Begleitung. Die Seelsorge hat hierbei den Auftrag, Patienten in ihrer persönlichen Spiritualität oder Religiosität zu begleiten. Das Konzept heisst heute Spiritual Care und ist Teil des Betreuungsansatzes Palliative Care.

Auch die Kirchen sind an diesem Kongress vertreten. Warum?
Dieser wissenschaftliche Kongress wird für Fachpersonen, die in der Palliative Care tätig sind, organisiert. Gerade die kirchlichen Seelsorgenden haben hier eine wichtige Rolle, weil sie spezialisierte Spiritual Care anbieten können, eine Kernarbeit von kirchlichen Seelsorgenden, für die sie auch ausgebildet sind. Daher ist es wichtig, dass Reformierte, Katholiken und Christkatholiken mit der gemeinsamen Fachgruppe vor Ort sind.

Sie haben an einem Indikationenset mitgearbeitet. Was ist das?
Das «Indikationenset für Spiritual Care und Seelsorge» ist eine Liste mit Themen wie Werte, Sinn oder Identität. Für Pflegefachleute sind die sieben Indikatoren als Verhaltensäusserungen von Patientinnen und Patienten formuliert, so dass sie im Alltag hellhörig werden können und bei Bedarf die Betroffenen auf das Seelsorgeangebot aufmerksam machen können.

Die Gesellschaft wird multireligi­öser und konfessionsloser. Was bedeutet das für die Spitalseelsorge?
Dem sollten wir mit dem Grundverständnis von Seelsorge begegnen, indem wir für Menschen aus allen Glaubensgemeinschaften und Weltanschauungen da sind. Wir vermitteln auch Kontakte zu Menschen aus anderen Religionsgemeinschaften. Eine Herausforderung bleibt allerdings, uns in den Institutionen wie in den Spitälern gut zu vernetzen und auch die gesamte Breite unseres Arbeitens aufzuzeigen.

Renata Aeb, 56

Die gebürtige Churerin ist seit einem Jahr Geschäftsführerin im Berufs-
verband Seelsorge im Gesundheits-wesen (BSG). Ausserdem ist die
Pfarrerin im Vorstand von palliative.ch, der schweizerischen Fachgesell-
schaft für Palliative Care. Aebi arbeitet als Spitalseelsorgerin in Graubün-
den und lebt mit ihrem Mann in Sargans.