«Spiritualität ist für mich eine Kernquelle von Resilienz»

Spiritualität

Die Psychologin Maja Storch hat einen Ratgeber für spirituelles Wachstum geschrieben. Ihre Botschaft: Um Kontakt mit dem Heiligen herzustellen brauchen wir den Körper.

Bislang haben Sie sich als Psychologin kaum zu spirituellen Themen geäussert. Ihr jüngstes Buch handelt nun vom «Körper als spiritueller Heimat». Wie kam es dazu?

Maja Storch: Vor sechs Jahren habe ich in Deutschland die Ausbildung zur nebenamtlichen Organistin begonnen. Dabei befasste ich mich vertieft mit christlichen Themen. Irgendwann kam die Einsicht: Bei Klienten, die religiös sind oder gläubig, sollte ich versuchen, über die Spiritualität Ressourcen freizusetzen.

In Ihrem Buch postulieren Sie: Alte Praktiken wie das Beten von Psalmen oder das Singen von Chorälen verbessern die psychische Gesundheit. Das ist ja nicht wirklich neu. Ein Griff in die Mottenkiste?

Wenn etwas alt ist, bedeutet das im­mer, dass es wirkt. Denn wenn es nicht wirken würde, so hätte es die Volksseele schon lange vergessen. Aber auch was schon lange währt, muss ir­gend­­wann renoviert werden. Die al­te Kaplanei, in der ich wohne, braucht neue Fenster, Glasfaserkabel oder ein besser wärmegedämmtes Dach. Und so muss man eben die alten und wirksamen Methoden der Kirche be­hutsam renovieren. Das haben ja andere auch schon gemacht.

Zum Beispiel?

Die gregorianischen Gesänge waren speziell ausgebildeten Kantoren in den Mönchsorden vorbehalten. Ein Mönch brauchte rund zehn Jahre, bis er das ganze Kirchenjahr auswendig intus hatte! Martin Luther wollte dann, dass die Gläubigen die Worte und den Gesang erlernen. Weil er merkte, dass sie viel ergriffener sind, wenn sie selber singen. Darum befand Luther: «Einmal gesungen ist doppelt gebetet.» Und erfand das Kirchengesangbuch.

Die Psychologie entdeckt also klösterliche Praktiken, um Gott näherzukommen. Das Neue ist vor allem die Verpackung mit der Marke «spirituelles Embodiment», oder?

Man kann es Branding nennen. Wa­rum nicht? Alter Wein in neuen Schläuchen: Da bin ich total dafür.

Die Psychologie ist eher als religionsskeptisch bekannt. Worin besteht die Schnittmenge zwischen Psychologie und Religion?

Religion ist psychotherapeutisch be­trachtet eine Anleitung zu einem geglückten Leben und Sterben. Die Gebete, die Evangelien, die Psalmen. Das Buch der Psalmen bildet sämtliche menschliche Existenzlagen ab. Egal, wie es Ihnen geht, Sie werden immer einen Psalm finden, der Ihre Situation beschreibt. Wer sich mit den biblischen Schicksalsgeschichten beschäftigt, kommt zum Schluss: Seit Tausenden von Jahren ergeht es vielen Menschen genauso wie mir gerade jetzt.

Und das tröstet und befreit.

Mehr als das. Oft zeigen die Psalmen auch die Lösung auf: Vertrauen fas­sen, resilient und optimistisch wer­den. Und wenn Sie einen guten Gottesdienst besuchen – mit einer guten Liturgie, schöner Kirchenmusik und einer einleuchtenden Predigt –, geht es Ihnen hinterher garantiert besser als davor.

Wie oft spielen bei Krisen spirituelle Themen eine Rolle?

Immer dann, wenn sich existenzielle Fragen stellen. Warum kann ausgerechnet ich keine Kinder bekommen, warum hat mein Mann Krebs, weshalb gibt es Corona? Hiobsthemen gibt es an jeder Ecke. Von Schicksalsschlägen betroffenen Menschen können Sie auf der Verstandesebene nicht weiterhelfen. Man kann sie jedoch auf der Ebene des Heiligen abholen.

Sie schreiben, ganz viele Menschen seien auf der «Suche nach dem Hei­ligen». Wie viele sind es?

Spiritualität ist für die meisten Men­schen von Bedeutung. Vielleicht für 90 Prozent. Auch in Workshops mit Profis renne ich mit dem Thema offene Türen ein.

Und wie findet man «das Heilige»?

Eine zentrale Aussage des Buches ist, dass das Heilige eben nicht durch das Denken adressiert werden kann. Wenn ich Menschen in Kontakt bringen will mit diesem Unsagbaren – dem Heiligen oder Numinosen – dann kann ich das nur über den Körper erspüren. Glaubenskrisen lassen sich nicht über den Kopf lösen. Der Telefondraht des Heiligen ist der Körper. Dieses ozeanische Einheitsgefühl, für das man keine Sprache findet, kann man nur mit dem Leib erleben.

Das klingt wie ein mystischer Ansatz. Entdeckt die Psychologie die Mystik?

Warum nicht. Selbst die Verhaltenstherapie arbeitet ja heute mit Achtsamkeitskonzepten. Wer Menschen helfen will, muss anerkennen, dass es ein nicht verstandesmässiges, regulierendes, unbewusstes System gibt: das Selbst.

Sie sind Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin. Diese beiden akademischen Felder sind in ihrem Selbstverständnis ja eher aufklärerisch-rational, stehen dem Kirchlich-Religiösen traditionell kritisch gegenüber. Gibt es diesen Gegensatz für Sie überhaupt?

Jein. Wer in der psychotherapeutischen Beratung oder im Coaching arbeitet, muss extrem sattelfest sein und klar unterscheiden können zwischen Esoterik und dem, was man in der akademischen Psychologie rational gut begründen kann; nicht-falsifizierbare Hypothesen sind wenig hilfreich. Das ist ganz wichtig, sonst kann es diese übergriffigen Abhängigkeiten geben. Therapeuten sind keine Gurus.

Und wenn die zu therapierenden einen eher esoterischen Hintergrund haben?

Das ist ganz egal. Für mich ist einzig wichtig, dass die Klienten ihre Probleme am Ende gelöst haben. Welche Begründung sie dafür anführen ist mir wurscht. Ob sie nach Lourdes wallfahren und sagen «die Mutter Gottes hat ein Wunder an mir vollbracht» oder es neurobiologisch begründen im Sinne von «bei mir wurden neuronale Netze trainiert» ist sekundär. Meinetwegen können sie ihren Goldhamster tätowieren, Hauptsache, es geht ihnen am Ende besser. Natürlich immer nur solange sich die Lösungen im Rahmen der geltenden Gesetze bewegen (lacht).

Die Religion arbeitet doch auch mit nicht-widerlegbaren Hypothesen. Ist das nicht der Grund, weshalb die Psychologie eigentlich möglichst wenig mit dem Religiösen zu tun haben wollte?

Natürlich! Wenn Sie sagen «mir hat Gott geholfen» oder «der Heilige Geist ist in mich gefahren» können Sie keine Studie dazu machen; das ist also nicht-falsifizierbar. 

Sie bauen ja nun aber Spiritualität in Ihre psychologische Arbeit ein. Wie lösen Sie dieses Dilemma, dass die Wirkung von Spiritualität schlecht wissenschaftlich nachweisbar ist?

Psychologische Profis, die mit Spiritualität arbeiten, brauchen eine klare Haltung. In Zürich ist das psychologische Institut nicht ohne Grund an einem anderen Ort als das theologische Institut. Es ist besser, dass die beiden Disziplinen getrennt sind. Wenn aber jemand gläubig ist und ich als Therapeutin auch etwas mit Spiritualität am Hut habe, dann kann ich schauen, ob wir spirituelle Ressourcen freilegen können. Aber Agnostiker sollen um Gottes willen die Finger lassen von Methoden wie dem spirituellen Embodiment!

Alter Wein in neuen Schläuchen: Da bin ich total dafür. Warum nicht? Wenn etwas alt ist, wirkt es immer.
Maja Storch, 63, Psychologin und Egnér-Preisträgerin 2021

Ein guter Predigtgottesdienst, bewe­gende Psalmen, schöne Gesänge: All diese wunderbaren Praktiken locken aber immer weniger Leute in die Kirchen.

Ja, das Unternehmen Kirche geht gerade den Bach runter, zumindest im deutschsprachigen Raum. Aber Spiritualität ist ein Megatrend, nicht erst seit gestern. Schon C. G. Jung wusste, dass Spirituelles für das seelische Wohlbefinden so wich­tig ist wie die Sexualität. Wenn das Grundbedürfnis nach dem Heiligen nicht erfüllt ist, werden die Leute neurotisch. Die Landeskirchen erreichen die Menschen mit ihrer Liturgie aber nicht mehr. Dass der Trend dennoch da ist, zeigen die vollen Hallen und Kassen innovativer Freikirchen.

Die Kirchen stehen ja auch in Konkurrenz zu diversen anderen spirituellen Angeboten, jetzt also auch noch zur Psychologie?

Ich stelle fest: Die Patch-Work-Spiritualität ist sehr verbreitet, das hängt natürlich auch mit der Globalisierung zusammen. Viele stellen sich ihr eigenes Programm zusammen; etwas Yoga, Chigong, einen Buddha-Alter und schamanisches Räucherwerk. Ich empfehle Therapeuten, die spirituell arbeiten wollen, einfach zu fragen: Sind Sie gläubig? Bei einem «ja» kann ich ganz anders arbeiten. Manchmal löst auch diese – für mich rein orientierende – Frage schon sehr viel aus. Eine meiner Klientinnen etwa verneinte erst und schimpfte über die Kirche, meinte später aber sie würde zur Trauerverarbeitung oft beim Bambushain in ihrem Garten sitzen und Grüntee trinken. Das ist natürlich auch eine Form von Glaube, mit dem ich arbeiten kann.

Springen Sie also einfach auf den Megatrend Spiritualität auf?

Das kann man so sehen. Psychologie hat die Aufgabe, den Menschen zu helfen, und wenn sie bei der Religion helfende Dinge findet, prima! Für mich ist Spiritualität eine Kernquelle von Resilienz.

Wie lautet Ihr Rat an die Kirche?

Besinnt euch auf eure jahrtausendealten Traditionen und moderni­siert sie. Hechelt nicht kurzlebigen Moden hinterher, sonst seid ihr bloss ewiger Zweiter. Es gilt, den kostbaren Schatz an Methoden, der über Jahrtausende Menschen geholfen hat, neu zu beleben und zu branden.

Maja Storch, Psychologin und ausgewiesene Expertin für «Selbst und Selbstbestimmung»

Maja Storch, Psychologin und ausgewiesene Expertin für «Selbst und Selbstbestimmung»

Maja Storch ist Inhaberin, Mitbegründerin und wissen­schaftliche Leiterin des Instituts für Selbstmanage­ment und Motivation Zürich ISMZ, einem Spin-off der Universität Zürich. Sie hat Psychologie, Philosophie und Pädagogik studiert und arbeitete als Jung'sche Psycho­analytikerin, Trainerin und Psychodramatherapeutin. Bekannt wurde sie vor allem durch das Zürcher Ressour­cen Modell (ZRM), welches sie zusammen mit Frank Krause entwickelte. Am 11. November 2021 hat sie in Zürich für ihre wissenschaftliche Arbeit rund um «Selbst und Selbstbestimmung» den renommierten Egnér-Preis für Psychologie verliehen bekommen. Gemeinsam mit dem Theologen Julius Kuhl aus Osnabrück: Kuhl setzt sich in seinem Buch «Spirituelle Intelligenz» dafür ein, dass sich die Theologie vermehrt auch mit dem durch die Neurobiologie und Psychologie veränderten Blick auf das Seelenleben auseinandersetzt.

Storch ist Autorin zahlreicher Sachbücher, etwa über kluges Entscheiden, Verhaltensänderungen und Beziehungen. Ihr neustes Buch «Spirituelles Embodiment» befasst sich mit dem Körper «als Schlüssel zu unserem wahren Selbst». Die Botschaft: Es sei höchste Zeit, den Körper in die spirituelle Praxis einzubeziehen. Der spirituelle Ratgeber enthält u.a. auch Selbsttests für die Auswahl persönlicher Psalmen, ausserdem stehen Videos zu Körpergebeten und gregorianische Gesänge als Download zur Verfügung. Maja Storch wohnt in der Nähe von Singen in einer alten Kaplanei neben der Kirche, wo auch «ihre» Orgel steht. Die Ausbildung zur Organistin war für sie ein Schlüsselerlebnis; sie beschloss die Ressourcen, welche althergebrachte, christliche Praktiken bieten, vermehrt auch für ihre psychologische Arbeit zu nutzen. Sie propagiert die zusätzlichen Möglichkeiten, die sich so für die therapeutische Arbeit anbieten nicht nur in Buchform, sondern gibt sie auch in Seminaren an psychologische Profis weiter.

www.majastorch.de