Im Tanzschritt zurück zu den Erinnerungen

Demenz

Im Zürcher Kirchenkreis sechs gibt es ein breites Angebot für Demenzkranke und Angehörige. Weil es gefragt ist, wird das Programm ausgebaut.

«Tanze mit mir in den Morgen, tanze mit mir in das Glück, in deinen Armen zu träumen ist so schön bei verliebter Musik.» Die Tangorhythmen des einprägsamen Schlagers aus den 70er-Jahren locken ein gutes Dutzend alte Damen auf die Tanzfläche. Sie haben sich herausgeputzt heute, tragen elegante Röcke und Blusen und sind sorgfältig frisiert. Einige von ihnen tanzen paarweise, andere alleine. Die zuweilen entrückten Gesichter strahlen Zufriedenheit aus. Nur wenige werden von einem Mann geführt, denn die überwiegende Mehrheit der Anwesenden sind Frauen.

Zum fünften Mal findet in diesem Jahr das Tanzcafé im Kirchgemeindehaus Oberstrass im Zürcher Kreis sechs statt. Das noch junge Angebot richtet sich an Demenzkranke und ihre Angehörigen. Sozialdiakonin Monika Hänggi organisiert es in Zusammenarbeit mit Esther und Beat Berger. Das Ehepaar betreibt in Gossau «Josefina’s Tanzcafé» mit dem gleichen Zweck und steht selber hinter dem DJ-Pult. «So etwas muss die Kirche anbieten», dachte Hänggi und setzte es vor einem Jahr in Tat um. «Tanzen weckt bei den meisten Menschen glückliche Erinnerungen an die Jugend, an die grosse Liebe, an fröhliche Feiern», sagt Hänggi, während sie die neu Eintretenden herzlich begrüsst, ihnen den Mantel abnimmt und sie an -einen Tisch begleitet. Das Interesse ist gross: Zwischen 50 und 60 Leute nehmen jedes Mal teil. 

Auch der Jass ist geblieben

Hierzulande leben gemäss Schätzungen der Alzheimervereinigung 150 000 Menschen mit Demenz. Von den über 65-Jährigen sind rund neun Prozent betroffen. Die Tendenz ist mit der zunehmenden Lebenserwartung steigend. «Die Spitex kann die speziellen Bedürfnisse der Patienten aus Zeitgründen oft nicht abdecken», weiss Hänggi. Das bestätigt auch Béatrice. Die 60-Jährige begleitet heute ihre Mutter zum Tanzen. Mit einem Lächeln im Gesicht sitzt die Mutter da, bewegt den Oberkörper zum Takt der Musik. Vor ihr ein Vermicelles und eine Tasse Kaffee. Sie schwelgt in der Musik. Seit vier Jahren betreut Béa, wie sie genannt werden will, ihre Mutter rundum zu Hause. Ihre Mutter habe fast alles vergessen, erzählt sie. An manchen Tage kennt sie ihre Tochter nicht. Oder sie beschimpft sie gar, weil sie die Tochter für jemand anderen hält. Die Spitex entlastet Béa. Doch bis die Mutter Vertrauen schöpfe, sei die Zeit jeweils bereits um. «Hier jedoch gibt es Zeit und Raum.» Béa deutet auf die grosse Tanzfläche. Lediglich zwei Dinge seien ihrer 80-jährigen Mutter geblieben: das Tanzen und das Jassen. «Dann ist sie wieder ganz die Alte und blüht auf.» Das Angebot schätzt Béa aber vor allem auch zur eigenen Entlastung. «Ich komme mit Leuten ins Gespräch, die Ähnliches erleben.»

Schwach sein dürfen

Reden können die Besucherinnen und Besucher auch mit Pfarrer Roland Wuillemin. Er befasst sich intensiv mit Demenz und stellt fest: «Die Gesellschaft ist auf Stärke und Leistung ausgerichtet.» Zwar seien Unabhängigkeit und Selbstständigkeit wichtige Werte. Aber zum Leben gehörten auch die Schwäche und das Scheitern. Demenz bedeute, «schwach sein dürfen, auf andere angewiesen sein», sagt Pfarrer Wuillemin. In der Musik von damals fühlten sich die oft orientierungslosen Menschen zu Hause. Hänggi und Wuillemin wollen das Angebot weiter ausbauen. Die Tanzanlässe werden auf zehn im Jahr verdoppelt, mit Anwesenheit eines Seelsorgers. Dieser wird nun zum Tanz aufgefordert, von einer verlegen lächelnden Dame mit Rosenbrosche.

Auch Austausch mit einer Psychologin

Der Kirchenkreis sechs soll zu einem Kompetenzzentrum im Bereich Demenz werden. Das Tanzcafé wird neu jeden letzten Dienstag im Monat angeboten. Am letzten Freitag findet jeweils das Singcafé statt. Beides im Kirchgemeindehaus Oberstrass. Im Kirchgemeindehaus Unterstrass können sich jeden letzten Mittwoch im Monat Angehörige mit der Psychologin Birte Weinheimer austauschen.