Ein Testament, das Leben rettet

Roman

Anna Seiler setzte sich im mittelalterlichen Bern für Kranke und Bedürftige ein. Sie legte den Grundstein zum Inselspital und schrieb damit Geschichte.

Bern 1354. Fünf Jahre war es her, dass die Pest einen Drittel der Stadtbevölkerung dahingerafft hatte. Die Witwe Anna Seiler, im damaligen Sprachgebrauch Anna Seilerin genannt, verfasste ihr Testament. Es beginnt selbstbewusst mit «Ich, Anna Seilerin». In ihrem letzten Willen hielt sie fest, dass das von ihr gegründete Spital «stets und ewig» bestehen solle. Ihr beträchtliches Vermögen verteilte sie unter anderem an ihre Mitstreiterinnen, die Beginen, die als Pflegerinnen mit ihr im Haus arbeiteten und lebten. Zentrale Rolle der Kirche Anna wuchs als einziges Kind ohne Mutter auf, lernte lesen und schreiben und begleitete den Vater auf seinen Reisen als Kaufmann. 

Kirche prägte das Leben

Ihr herrschaftliches Domizil stand an der Zeughausgasse in Bern unmittelbar gegenüber der Französischen Kirche, der damaligen Prediger- oder Dominikanerkirche, die zum angrenzenden Kloster gehörte. «Kirche und Religion spielten im Leben von Anna Seilerin und im Leben der Menschen jener Zeit überhaupt eine zentrale Rolle», führt die Autorin Therese Bichsel aus. Ganz anders als heute seien Glaube, Geburt, Krankheit und Tod allgegenwärtig gewesen. «Die Reformation war noch weit weg. Die Kirche hatte viel Macht und prägte das Denken und den Alltag der Leute.»

Die Reformation war noch weit weg. Die Kirche hatte viel Macht und prägte das Denken und den Alltag der Leute.
Therese Bichsel, Autorin

Bichsel hat sich intensiv mit dem Leben im Mittelalter befasst. «Bern im 14. Jahrhundert war eine auf-strebende Stadt mit wachsender Bevölkerung und einem blühenden Handel.» Und Anna Seiler, die Mitte zwanzig bereits Witwe war, begütert und kinderlos, wählte einen ungewöhnlichen Weg: Sie entschied sich gegen eine Wiederverheiratung und gegen einen Klostereintritt. Frauen waren kaum sichtbar «Als alleinstehende Frau im späten Mittelalter war das alles andere als selbstverständlich», betont Bichsel. «Frauen, auch verheiratete, traten damals normalerweise im öffentlichen Leben nicht in Erscheinung.» Nicht so die Seilerin.

Die Pest wütete in Bern 

Im Frühsommer 1349 wütete in Bern, wie in ganz Europa, die Pest. Täglich starben rund sechzig Menschen. Die Wohlhabenden wurden zu Hause betreut, die Armen lagen auf der Strasse. «Nur wenige fanden Platz im kleinen Heiliggeistspital oder Niederen Spital.» Es war ein dramatischer Einschnitt für die Stadt, aber auch wegweisend für Anna Seiler: Sie nahm Kranke in ihrem Haus auf und pflegte sie, unterstützt von Angehörigen eines Laienordens, den Beginen.

«Mich beeindruckt, dass die Frau sich berühren liess vom Leiden, das sie umgab», führt Therese Bichsel aus. Anstatt sich ängstlich zurückzuziehen, habe sie ihr Zuhause zur Verfügung gestellt und ihr Vermögen eingesetzt, um Menschen zu helfen. «Das fasziniert mich an ihr und an all den anderen Protagonistinnen meiner Romane: Sie stehen für das, was ihnen wichtig ist, ein und gehen ihren eigenen, nicht vorgegebenen Weg.» Kein Plan, sondern Antrieb

Therese Bichsel, 65

Kindheit im Emmental, Germanistikstudium in Bern, Journalistin, Redaktorin beim Schweizer Parlament. 1997 erschien ihr erster Roman «Schöne Schifferin». Seither schrieb sie neun weitere Romane, meist zu historischen Frauenfiguren wie «Catherine von Wattenwyl» oder «Grossfürstin Anna». Sie ist Mutter von zwei erwachsenen Söhnen und lebt mit ihrem Mann in Bern und Unterseen. Therese Bichsel: Anna Seilerin – Stifterin des Inselspitals, Zytglogge, 2020, Fr. 36.–

Auch Bichsel geht ihren eigenen Weg. Nach dem Germanistikstudium arbeitete sie als Redaktorin bei einer Tageszeitung, wurde Mutter, löste sich aus der ersten Ehe und begann, Bücher zu schreiben. «Schriftstellerin zu werden, war nie mein Plan», so die Bernerin. «Es war vielmehr ein innerer Antrieb, Frauen wie Anna Seilerin eine Stimme zu geben und mit den Geschichten heutigen Frauen Mut zu machen.»

1360 stirbt Anna Seiler, und aus ihrem Privathaus wurde das Seilerin-Spital mit dreizehn Betten. «Ihr Testament hat sie äusserst klug verfasst», sagt Bichsel. «Niemand konnte ihren letzten Willen umgehen.» Und tatsächlich, ihr Vermächtnis hat bis heute Bestand. Aus dem kleinen Spital entwickelte sich das heutige Inselspital mit Platz für jährlich rund 44 000 stationären Patientinnen und Patienten. Und eines der Gebäude trägt ihren Namen: Anna-Seiler-Haus.