Recherche 26. Mai 2020, von Rita Gianelli, Martin Kämpchen

Indisches Christen sollten selbstbewusster sein

Dialog

Das indische Christentum ist älter als wir meinen. Vor allem im südindischen Kerala hat es sich ausgebreitet. Indien-Experte Martin Kämpchen erklärt, wie Christen in Indien wirken.

Es heisst, dass im Jahr 52 der Apostel Thomas Indien erreicht und entlang der West- und Ostküste christliche Gemeinden gegründet hat. Nach der Legende erlitt der Apostel in der Nähe der Grossstadt Chennai (früher Madras) den Märtyrertod. Sein Grab wird bis heute in der Kathedrale von Chennai verehrt. Zwar gibt es in Südindien Gemeinden, die sich vom Apostel Thomas ableiten, doch historisch bewiesen ist seine Gegenwart in In­dien nicht. Allen indischen Christen jedoch bedeutet die Verbindung zur apostolischen Zeit sehr viel. Unser modernes Europa hat das Christentum nicht nach Indien gebracht, wie wir häufig annehmen. Es bestanden christliche Gemeinden in Südindien sogar früher als bei uns. Darum ist Indien nicht das typische Missionsland wie zum Beispiel viele afrikanische Länder.

Seefahrer brachten Mission

Belegt ist das Christentum seit der Mitte des vierten Jahrhunderts, als christliche Flüchtlinge aus ­Syrien und Mesopotamien in mehreren Wellen im heutigen Kerala landeten und sich niederliessen. Die Flüchtlinge blieben in enger Verbindung mit der Mutterkirche, was sie in Indien jedoch isolierte. Zahlenmässig blieben sie unbedeutend und auf die Küstengebiete beschränkt. Die moderne Missionsgeschichte Indiens beginnt um das Jahr 1500, als portugiesische Seefahrer in Kerala landeten und begannen, mit den Einwohnern Handel zu treiben. Mit den Kaufleuten kamen die Missionare. Zunächst wollten sie den Islam zurückdrängen, der sich viel früher ausgebreitet hatte. Die Seefahrer glaubten, den Muslimen und Hindus einen «Dienst» zu erweisen, wenn sie ihnen, oft unter Druck, die Frohe Botschaft verkündeten, um sie durch die Taufe vor ihrem «Aberglauben» und sicheren Höllenstrafen zu bewahren.

Sari statt Kleid

Mit Handelsbeziehungen und Religion kam auch Eroberung. Die Portugiesen, Franzosen und vor allem die Engländer wirkten als Kolonisatoren. Das half der Ausbreitung des Christentums, schlug der Psyche der Inder aber auch tiefe, bis heute ungeheilte Wunden. Viele gebildete Hindus haben eine Aversion gegenüber Christen, weil sie mit den Kolonisatoren paktierten und ihnen (den Hindus) ihre Religion aufdrängten. Im Hinduismus sind Konversionen traditionell unbekannt. Dennoch ist es den Kirchen nicht gelungen, wie in Afrika und Südamerika, in Indien eine markante christliche Präsenz zu schaffen. Der Anteil der Christen in Indien liegt heute bei weniger als drei Prozent der Gesamtbevölkerung. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass in Indien zwar mehrheitlich Hindus (83 Prozent) sowie Muslime (11 Prozent) leben, dass es jedoch Heimat einer Vielzahl von Religionen ist: des Buddhismus, des Sikhismus, der Parsen, der Juden, der Sindhis und anderer Gruppen. Für indische Christen ist es unerlässlich, diese Pluralität anzuerkennen und darin ihren eigenen, unverwechselbaren Platz zu finden. Christliche Schulen und Krankenhäuser sind in allen Teilen Indiens verbreitet und in der gesamten Bevölkerung beliebt und anerkannt. Durch sie übt das Christentum einen weit stärkeren Einfluss aus, als ihre Prozentzahl vermuten lässt. Allerdings muss das indische Christentum entschlossener in die Gesellschaft hineinwirken. Seit den 1950er-Jahren öffnen sich Katholiken und Protestanten dem Hinduismus in Dialogprogrammen. Ein Zauberwort der 1970er- und 1980er-Jahre war «Inkulturation». Das Christentum versuchte, sich auf den Ebenen des Alltags, aber auch in der kirchlichen Praxis den Lebensgewohnheiten und den Riten und der Symbolik der Hindus anzunähern. Das Christentum durfte nicht länger «europäisch» wirken. So tragen indische Christinnen Saris statt ein Kleid; der Gruss ist nicht der Handschlag, sondern «Namaste», die vor der Brust zusammengelegten Hände. Die Kirche betreten alle barfuss, wie die Hindus den Tempel. Die liturgischen Gewänder sind dem Klima und den üblichen Bräuchen Indiens angeglichen. Und häufig werden keine Kerzen, sondern Öllampen (wie in Tempeln) entzündet.

Herausforderung anpacken

Konfrontiert von einer Welle des Hindu-Fundamentalismus, wollen junge Priester, Pfarrer, Ordensfrauen und Laien ein aggressiv-soziales Engagement verwirklichen. Es richtet sich auf die Dalits. Jene Gruppe, die wegen Armut, schulischer Rückständigkeit und ihres niederen Kastenstatus am meisten benachteiligt ist. Sie wirtschaftlich und schulisch zu fördern, vor allem ihnen ein «Gesicht» in der Öffentlichkeit zu geben, ist das wichtige Anliegen. Vorurteile gegen die Dalits betreffend Kastenhierarchie, manuelle Arbeit und Stellung der Frau müssen abgebaut werden. Dieser Kampf zugunsten der Dalits muss nicht nur gegen den Hindu-Fundamentalismus geführt werden, sondern auch gegen die an der eigenen Macht hängende Kirchenhierarchie. Gerechtigkeit, demokratisches Verständnis, Gleichheit unter den Menschen, müssen mehr zum Thema der Auseinandersetzungen der Kirchen werden. So wären Christen das Salz in der Gesellschaft, zu dem die Evangelien sie seit jeher bestimmen.

"Hindus sind Verehrer von Göttinnen"

Gewalt prägt den indischen Alltag genauso wie Toleranz und bewusst gelebte Weiblichkeit. Im Interview sagt Martin Kämpchen warum.

Ist die indische Gesellschaft tatsächlich so frauenfeindlich, wie man oft hört?

Martin Kämpchen: Hindus sind Verehrer von Göttinnen, von Durga, Kali, Parvati, Sita und vielen anderen. Das Weibliche ist im Hinduismus viel ausgeprägter als im Christentum. Die Göttinnen sind die archetypischen Muttergestalten der Gesellschaft. Es besteht eine tiefe, geradezu religiöse, Verehrung auch für die eigenen Mütter und Ehefrauen. Der Eindruck einer allgemeinen Frauenfeindlichkeit entsteht durch die extrem hierarchische Gesellschaftsstruktur. Frauen bleiben immer noch stark im Hintergrund des öffentlichen Lebens. Doch sie halten die Familien, und das heisst die Gesellschaft, zusammen. Das wissen auch alle Männer.

Beobachtet man in der Schweiz die Berichte über Indien, entsteht der Eindruck einer gewaltbereiten Gesellschaft. Stimmt er?

Ja, leider herrscht viel Gewalt im öffentlichen Leben. Doch bedenken Sie bitte, wie viele Religionen, Kasten, Sprach- und ethnische Gemeinschaften in diesem Land zusammenleben. Da ist das Gewaltpotenzial sehr viel grösser als in Europa. Bedenken Sie, wie räumlich eng die Menschen zusammenleben, wie niedrig der durchschnittliche Bildungsstand ist, da wundert man sich, dass nicht jeden Tag eine Revolution angezettelt wird. Man muss die Kontexte beachten.

Können Sie ein erfolgreiches Projekt nennen, das den Dialog zwischen Christen und Hindus pflegt?

Das erfolgreichste Projekt ist das Zusammenleben und wirtschaftliche und kulturelle Ineinandergreifen von Hindus und Muslimen besonders in der einfachen Bevölkerung. Die drei prominentesten Bollywood-Filmstars sind Muslime, denen Millionen zu Füssen liegen. Das bedeutendste indische Bauwerk, der Taj Mahal, ist islamisch; alle wollen sich vor ihm fotografieren lassen. Die bedeutendste Musik, die Hindustani-Musik, stammt aus dem Islam. Alle lieben sie. Das ist Dialog, ohne den Begriff anzustrengen. Das Problem entsteht, wenn die Unterschiede politisiert werden, wie aktuell, und von den sensationslüsternen Medien dort wie hier jeweils hochgespielt werden.

Martin Kämpchen, 72

Seit über 30 Jahren lebt der Deutsche den Grossteil des Jahres in Santini­ketan, nördlich von Kalkutta, wo er Entwicklungsprojekte leitet. Seine Übersetzungen der Werke des indischen Nobelpreisträgers Rabindranath Tagore sind mehrfach ausgezeichnet. Ende Jahr erscheint sein Buch über den Reformpädagogen Paul Geheeb, Gründer der Ecole d’Humanite in Hasliberg.