Mehr als 80 Kirchengebäude zählt der Kanton Graubünden. Kirchen, so sagt Johannes Stückelberger, seien «gewaltige Gedächtnisspeicher des sozialen Lebens». Stückelberger ist Kunsthistoriker und Dozent für Religions- und Kirchenästhetik an der Universität Bern. Er organisiert auch die Schweizer Kirchenbautage, die seit 2015 im Zweijahresrhythmus stattfinden. Der diesjährige Anlass, mit dem Titel «Flexible Kirchenräume», befasste sich auch mit der Raumgestaltung, Sitzordnung sowie Licht und Akustik von Kirchen. Anhand aktueller Neugestaltungen wurden Fragen, Probleme und Lösungen diskutiert.
Das Gestaltungsprojekt der reformierten Kirche in Felsberg war eines von sechs Projekten, die dabei vorgestellt wurden. Am Anfang wollte man in Felsberg lediglich eine neue Heizung planen. Schnell entwickelte sich bei allen Involvierten das Bewusstsein für eine ganzheitliche Betrachtung der Situation. Der Innenraum wurde genauso wie der Friedhof und der Zugang zur Kirche miteinbezogen. Ziel des Kirchenvorstandes sei gewesen, mit der Planung die Kirche und ihre Umgebung als zeitgemässen spirituellen Treffpunkt zu etablieren und die verschiedenen Ansprüche der Bevölkerung für ein neues Zeitalter zu berücksichtigen.
«Die erweiterte Nutzung von Kirchenräumen wird in Zukunft zunehmen», erklärt Stückelberger. Bevor man Kirchen abreisst oder verkauft, sollte man erweiterte Nutzungen, wie sie in Felsberg durch die Neugestaltung möglich werden, prüfen. «Das Thema ist hochaktuell», so der Fachmann.
Gemeinschaft am Tisch
Die festen Bankreihen im Innenraum der Kirche in Felsberg sollen geräumt und durch einen Tisch ersetzt werden («reformiert.» 11/20). «Der Tisch ist ein verbindendes Symbol in unserer Gesellschaft», so der Felsberger Pfarrer Fadri Ratti. «Eine lange Tafel soll auch bei uns in der Kirche zum Zusammensitzen einladen», sagt der Pfarrer.
Das sei eine starke Botschaft, so Stückelberger, denn in der Tischgemeinschaft sei die Hierarchie aufgehoben und alle würden sich auf Augenhöhe begegnen. Der rund neun Meter lange Tisch als Grundausstattung der Kirche lenke die Aufmerksamkeit von der Kanzel weg auf die Mahlgemeinschaft. Das Sakrament des Abendmahls werde somit deutlich aufgewertet. «Das gefällt mir gut», so der Kunsthistoriker.
Ein verlängertes Vordach der Kirche, ein neues Nebengebäude sowie ein barrierefreier Zugang zu allen Bereichen sind weitere Elemente des Projekts. «Dieses Projekt nimmt die Bedürfnisse auf, die an öffentliche Orte gestellt werden», so Stückelberger. Diese Neugestaltung mache die Felsberger Kirche zu einem offenen Begegnungsort.
Umnutzungen Graubünden
Bemerkenswert ist für Stückelberger, der schweizweit auch als Berater für Umnutzungsprojekte tätig ist, dass beim Felsberger Projekt von Anfang an alle Beteiligten professionell zusammengearbeitet haben. Von der Kirchgemeinde über die politische Gemeinde bis hin zur Denkmalpflege wurden alle ins Boot geholt.
Renommierte Fachleute wie der Bündner Bauingenieur Jürg Conzett, der Zürcher Theologe Matthias Krieg, der zum Thema Kirchennutzung geforscht hat, sowie ein Architekt und ein Landschaftgestalter bringen ihre Expertisen mit einer eigenständigen Sprache ins Projekt mit ein. «Gleiches gilt auch bei der künstlerischen Gestaltung», sagt Stückelberger. Denn neben der Umgestaltung der Kirche und der Umgebung «soll auch Raum für Kunst entstehen», heisst es im Projektbeschrieb. Dieser soll als verbindendes Element den Geist dieses besonderen Ortes unterstreichen.
Für den Gottesdienst erhalten
Dazu läuft derzeit ein Projektwettbewerb. In der Jury sitzen ausgewiesene Fachpersonen wie beispielsweise Christina Sonderegger, Kuratorin am Schweizerischen Nationalmuseum in Zürich, oder Stephan Kunz, künstlerischer Direktor des Kunstmuseums in Chur. «Zu einem Dialog der Fachleute anregen, zu denen auch die Mitarbeitenden der Kirchgemeinde zählen, das ist eines der Ziele der Kirchenbautage», so Stückelberger, «es werden Themen diskutiert, die sowohl die Kirchen als auch die Denkmalpflege betreffen.»
Auf die Frage, warum es im Kanton Graubünden bisher weniger Kirchenumnutzungsprojekte gibt als beispielsweise in den Kantonen Bern oder Basel, sagt Johannes Stückelberger, dies hänge vermutlich mit der Situation des Landkantons zusammen, in dem es pro Gemeinde in der Regel nur eine Kirche gibt, die man für den Gottesdienst erhalten will. Sollte es aber vermehrt Gemeindezusammenlegungen geben, könnte der Themenbereich der Kirchenumnutzungen aber auch im Kanton Graubünden noch aktueller werden.