Enge Zimmer, niedrige Stubendecke aus Rundhölzern – so kommen mittelalterliche Fachwerkhäuser in der Konstanzer Altstadt daher. Hier in den beschränkten Platzverhältnissen hat das Konstanzer Jan-Hus-Museum sein Domizil. Die Schautafeln hängen dicht beieinander, die Schriften sind klein. Die tschechischen Museumsmacher, welche die Hus-Ausstellung erstellt haben, drängte es: Kein Detail im kurzen Leben des tschechischen Nationalhelden Jan Hus sollte ausgelassen werden.
Im Juli 1415 haben die Kardinäle den tschechischen Theologen und charismatischen Prediger auf dem Konstanzer Konzil zu Tode verurteilt. Die tschechische Museumsangestellte Libuse Rösch sagt: «Dass am 6. Juli 1415 Jan Hus in Konstanz verbrannt wurde, das weiss jedes Schulkind in Tschechien.» Und Museumsleiter Tobias Engelsing erinnert sich an Begegnungen in Böhmen, wo die Menschen beim Stichwort Konstanz ins Erzählen gerieten und das Gespräch mit einem Schnäpschen begossen wurde.
Das Hus-Haus in der Hussenstrasse in der Altstadt von Konstanz ist, wie Engelsing sagt, eine Wallfahrtsstätte. Tausende von Tschechen machen hier halt. Seit dem 19. Jahrhundert wird hier Jan Hus als Vorkämpfer der tschechischen Einigung gehuldigt. Der Historiker führt durch die mit vielen Schrifttafeln angefüllten Zimmer. Und mit einem Seufzen sagt er: «Gerne würde man hier den Sessel, auf dem Hus gesessen ist, das Pult, an dem er seine Feder für die Korrespondenz an seine tschechischen Freunde ins Tintenfass getaucht hat, zeigen. Aber es existieren leider nur noch drei Original-Exponate.» Der Museumsleiter steuert eine verwitterte Holztür an. «Die Kerkertüre von Jan Hus, hinter der er im Dominikanerkloster geschmachtet hat.»
Viele Leerstellen. Allen Jan-Hus-Spuren in Konstanz haftet heute ein Fragezeichen an. Das Haus, in dem sich das Museum befindet, wurde jahrhundertelang für die Herberge gehalten, wo Hus seine letzten Tage in Freiheit verbracht haben soll – belegen lässt sich das nicht. Dort, wo heute der Hussenstein steht, könnte sein Hinrichtungsort gewesen sein. Gewiss ist aber auch das nicht. Und die vielen Darstellungen von Jan Hus mit Vollbart sind auch nur der Fantasie der Historienmaler zuzuschreiben. Hus war wahrscheinlich bartlos.
Eine haarige Sache also, welche die Historiker zu zahlreichen Haarspaltereien einlädt. Das Vage und das Ungewisse laden zu Hypothesen ein. Die geschichtlichen Leerstellen machen den Prager Prediger zur Projektionsfläche für viele religiöse und ideologische Konzepte. «Die Kommunisten sehen in ihm einen Sozialrevolutionär, die Nationalisten den Vater der tschechischen Nation und die Reformierten den Vorläufer Luthers», sagt Engelsing.
Und wie bringt er Schülerinnen und Schülern des 21. Jahrhunderts Jan Hus nahe, der vor 600 Jahren auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde? «Mit dem Stichwort Freiheit», erklärt Engelsing. «Die Freiheit des Wortes beschäftigte Hus immens. Die eigene Meinung gegen die Mächtigen jener Zeit vertreten zu können. Er musste sich fragen: Wie viel bin ich bereit, dafür zu riskieren? Eine Frage, die unvermindert aktuell ist. Den Jugendlichen scheinen heute Freiheitswerte allerdings weniger wichtig als die Ordnung.» Engelsing ist überzeugt: Hätte Hus sich mit seinen Ideen durchgesetzt, wäre das Konzil von Konstanz ein echtes Reformkonzil geworden, und die Reformation rund hundert Jahre später hätte sich erübrigt.
Historischer Kitsch. Im Dominikanerkloster gleich am Ufer des Bodensees platziert Henry Gerlach im Kreuzgang seine Unterlagen auf ein Partytischchen. In dem historischen Gemäuer, das zu einem Luxushotel umgebaut wurde, erzählt der Experte des Konstanzer Konzils eine ganz andere Geschichte: «Hus war ein Fundamentalist. Mit Toleranz hatte er nichts zu tun.»
Hinter ihm ist ein Historienbild aus dem 19. Jahrhundert auf die Wand gemalt. Es zeigt den radikalen Theologen in Ketten, zuversichtlich sein Haupt dem göttlichen Licht zugewandt, das durch die Gefängniszelle dringt. Für Gerlach ist dies geschichtsglitternder Kitsch. Der Kunsthistoriker hat ein Kompetenzzentrum für das Konstanzer Konzil aufgebaut und zusammen mit seiner Frau einen Konzilkrimi geschrieben. Er ist sozusagen die moderne Form des Privatgelehrten, der auch in historische Gewänder schlüpft, um als Stadtführer bei Besuchern Appetit auf Geschichte zu wecken.
Laszive Hafendame. Am Anfang der Hus-Exkursion steht Gerlach vor dem mächtigen Kaufhaus am Hafen, das heute noch Konzilsgebäude heisst und eine wechselvolle Geschichte vorzuweisen hat. Hier, in dem ehemaligen Warenlager, fand 1417 das Konklave zur Papstwahl statt. Im 19. Jahrhundert nutzte die Bahn das Gebäude als Güterbahnhof. Heute kann man den Saal für Familienfeiern mieten, im Obergeschoss finden Konzerte statt.
Ein Steinwurf entfernt, am Ende des Landestegs, plustert sich die riesenhafte Gestalt der Imperia auf. Die mächtige Statue mit zentnerschwerem Steinbusen, geschaffen 1993 vom Bildhauer Peter Lenk, grüsst lasziv die Konstanz-Passanten. Sie steht als Symbol für den Aufmarsch der Prostituierten, die mit ihren Liebesdiensten den Kardinälen und Königen, Grafen und Bischöfen während der vier Konzilsjahre 1414-1418 zu Diensten standen. Genau diesen Sündenpfuhl prangerte Hus an, predigte stattdessen das christliche Armutsideal und rüttelte damit am Thron der Mächtigen – mit fatalen Folgen für ihn.
Bibel allein. Das Konzil selbst tagte im Konstanzer Münster. Gleich hinter dem Eingang, zwischen den Kirchenbänken, konturiert sich ein dunkler Fleck. Henry Gerlach zeigt darauf und sagt: «Hier, so will es die Legende, soll in Hus nach seiner Verurteilung der Teufel gefahren sein.» Dreimal versuchte Hus unter dem gotischen Gewölbe des Doms seine Lehre zu verteidigen: Nur die Bibel und nichts als die Bibel machte er als einzige Autorität in Glaubensfragen aus. Nicht den Papst und nicht die kirchlichen Gerichte, sondern Jesus Christus allein sei die Quelle aller Wahrheit.
Im Eifererton. Es war während Gerlachs Ausführungen deutlich spürbar: Ein Mensch wie Hus, kompromisslos zum Märtyrertum bereit, das widerspricht seinem Lebenskonzept. «Man muss Hus im lateinischen Original lesen. Der Ton des Eiferers ist kaum zu überhören», sagt er. Und er verteidigt die zwölf Kardinäle, die 1415 Hus zum Tode verurteilten. Rein verfahrenstechnisch sei der Prozess regelkonform verlaufen.
Möglichkeiten seien Hus angeboten worden, den Flammentod als Ketzer zu vermeiden. Etwa vom Schirmherr des Konzils, dem römisch-deutschen König Sigismund, der ihm freies Geleit versprochen hatte und allein schon wegen des vorhersehbaren Konflikts in Böhmen keinen Märtyrer produzieren wollte. «Aber Hus wollte über die ihm gebauten goldenen Brücken nicht gehen.»
Den Konzilbeauftragten der Evangelischen Kirche, Holger Müller, fasziniert an Hus genau diese Aufopferungsbereitschaft: «für eine Idee sein Leben zu geben». Müller spricht in der ruhigen Tonlage des aufgeklärten evangelischen Pfarrers. Ihm geht es nicht darum, zum christlichen Märtyrertum aufzurufen. Hus steht für ihn als Modell, sein Leben auf eine Berufung auszurichten. Darüber redet Müller mit Konfirmanden und Jugendlichen, wenn er ihnen den mittelalterlichen Reformer nahebringen will.
Als Theologe betont Müller die Geistesverwandtschaft zwischen Luther und Hus. Schon der tschechische Reformator predigte die Botschaft Jesus in Tschechisch, geisselte die Verderbtheit der Kirche und der klerikalen Hierarchien. Nur Jesus sollte die Richtschnur sein – keine gern gehörte Maxime für die mächtigen Amtsträger der damals durch drei gleichzeitig amtierende Päpste in sich gespaltenen katholischen Kirche. Zudem wollte Hus – auch hierin ein «früher Luther» – der hohen Geistlichkeit den Geldhahn zudrehen, wetterte gegen Ämterschacher und Ablasshandel.
Ungeliebtes Denkmal. Der frühe Luther – das Stichwort war auch der Grund, weshalb sich so viele Protestanten auf der Spendenliste für den Hussenstein eintrugen, ein Findling, der 1863 mehr oder weniger an der Stelle zu stehen kam, wo die Flammen Jan Hus verschlungen haben. Die Bischofsstadt Konstanz, 1548 und damit schon wenige Jahre nach Luthers Reformation wieder katholisch geworden, war noch im 19. Jahrhundert nicht willens, ein Denkmal für Hus zu errichten. Eine protestantische Spendenaktion machte den Weg frei. Und so pilgern heute viele Tschechen zum Hussenstein, zum «Denkmal für jemanden, für den man gemäss Konstanzer Obrigkeit kein Denkmal errichten darf», wie Gerlach sagt. Ein unscheinbares Denkmal zeigt, wie Geschichte über Jahrhunderte nachwirkt.