Global beten und meditieren

Digitalisierung

Sabrina Müller forscht an der Universität Zürich zum Thema Religion im Internet. Eine Erkenntnis: Kirche und Pfarrpersonen sind keine religiösen Autoritäten mehr.

Frau Müller, was verstehen Sie unter Digital Religion(s) und warum das s in Klammern?
Sabrina Müller: Eine klare Definition gibt es nicht. Es bedeutet, dass die Digitalisierung auch Religionen erfasst hat. Das zusätzliche s erklärt, dass sich verschiedene Religionen und Spiritualitäten in der virtuellen Welt vermischen können. Es ist ein globales Phänomen und es gibt auf der ganzen Welt Menschen, die darüber forschen. Mit vielen von ihnen sind wir im Austausch.

Sie forschen über religiöse, spirituelle Apps. Was ist Ihre Erkenntnis?
Als Forscherin untersuche ich Apps wie Insight Timer und Evermore. Ich folge verschiedenen Influencerinnen und Influencern auf Instagram und Youtube wie @andersamen und @pfarrerausplastig. Als Beispiel: Je nach App meditiert man zusammen, tauscht sich aus, virtuelle Freundschaften entstehen. Das Spannende ist, dass sich weltweit Menschen vernetzen, miteinander meditieren, beten. Das machen sie unabhängig von ihrer Religion, sie wenden sich dabei an Krishna oder Christus. Heute sind viele Menschen ihre eigene religiöse Autorität und wählen diese freier als früher.

Ist das nicht verwirrend?
Es ist herausfordernd und verwirrend, weil die Dinge nicht mehr einfach gegeben sind und Menschen so herausgefordert sind, ihre Sinndeutung selbst zu gestalten.

Was empfehlen Sie Kirchen und Pfarrpersonen?
Wir müssen kirchliche Arbeit anders denken. Und zwar über die Parochie (Pfarramtsbezirk) und Regionen, sogar über die Kantons- und Ländergrenzen hinaus. Das heisst nicht, dass wir Kirche nicht mehr als Ortsgemeinden verstehen sollen, die sind wichtig. Aber wir müssen Kirche auch als Bewegung von Menschen verstehen, die sich um Gottes- und Sinnfragen versammeln. Denn digital funktionieren parochiale Logiken nicht.

Was konkret kann die Kirche tun?
Partizipative Formate schaffen, mit den Menschen theologisieren, das heisst, die eigenen Überlegungen theologisch reflektieren. Viele Menschen haben religiöse Erfahrungen gemacht. Das wird zu wenig thematisiert. Häufig sind es aber genau solche Erfahrungen, die sie aktiv werden lassen in einer Kirchgemeinde. Religiöse Erfahrungen werden prägend, wenn Menschen das durchdenken können und ein Gegenüber haben. Dazu müssen jedoch Erfahrungsräume vorhanden sein.

Und wie kann man solche Erfahrungsräume kreieren?
Indem zum Beispiel von Pfarrpersonen partizipative Formen im Gottesdienst eingeführt werden: Meditationsstationen etwa oder auch ein gemeinsames Bibelauslegen. Den ganzen Bildungsbereich reduzieren wir auf die Katechetik und Erwachsenenbildung. Aber generationenübergreifend miteinander theologisieren, das kennen wir heute kaum. Influencerinnen und Influencer in den Digital Religion(s) füllen häufig dieses Vakuum.

Wie kann die Kirche auf die Digitalisierung reagieren?
Erstens: Es gilt, eine Digitalisierungsstrategie zu entwerfen. Nicht jede Kirchgemeinde braucht Instagram, aber vielleicht gibt es im Kanton zwei, drei Personen aus dem kirchlichen Umfeld, die bereits tausend Follower haben und die es zu unterstützen lohnt. So kann man schnell eine Sichtbarkeit erlangen. Zweitens: Bei Digitalisierungsstrategien sollte man die Menschen nicht zwingen, digital unterwegs zu sein. Die Logik des Influencing heisst Authentizität der Person. Ohne die folgen die Menschen nicht.

Wo liegen denn die Grenzen im Gebrauch der digitalen Religion?
Das Problem ist, dass es keine Grenzen gibt. Von extremem Fundamentalismus über Verschwörungstheorien bis zum totalen Liberalismus gibt es im Netz alles. Wer aber zieht hier die Grenzen? Die Datenschutzgesetzgebung hinkt hinterher.

Könnten die Kirchen vorangehen?
Ja, in Bezug auf ihre digitalen Akteurinnen und Akteure sicher. Als Pfarrerin gilt für mich auch online das Seelsorgegeheimnis und selbstverständlich halte ich mich ans Ordinationsgelübde. Ich würde Kirchen raten, ein Netzwerk für Influencerinnen und Influencer zu gründen und einen Codex zu erarbeiten. So macht es zum Beispiel die Evangelische Kirche in Deutschland mit dem Yeet-Netzwerk.

Welche Konsequenzen hat diese Entwicklung für die Kirche?
Sie beschleunigt die Entwicklung unserere Lebensart: partizipativ, individualisiert, selbstbestimmt. Deshalb sprechen wir in der Forschung auch von der postdigitalen Lebensform. Wir führen ein hybrides Leben, in dem sich das Digitale und das Analoge stark vermischen. Darum müssen wir uns überlegen, was es heisst, Menschen analog, digital, hybrid in ihrer Sinnsuche zu begleiten. Studien aus Deutschland sagen, dass Ortsgemeinden, die sich auf eine spezielle Zielgruppe fokussieren, mehr florieren. Ein Wachstumshemmer ist zu sagen, wir sind für alle da. Kooperation zwischen den Gemeinden schafft Raum, um sich auf die eigenen Stärken zu besinnen.

Sabrina Müller, 43

Die Theologin und Pfarrerin ist Privatdozentin für Praktische Theologie an der Universität Zürich. Dort arbeitet sie auch als Geschäftsleiterin des Universitären Forschungsschwerpunkts (UFSP) Digital Religion(s). Sabrina Müller lebt mit ihrem Ehemann, der ebenfalls Pfarrer ist, und ihren beiden Hunden in Hinwil. Sie ist Gast an der Zukunftstagung der Landeskirche Graubünden am 26. August in Flims.