Kopfkino mit Roy Oppenheim

Lesereise

Die Juden und die Schweiz: Am 28. September lädt der Publizist Roy Oppenheim zu einer Exkursion in die Aargauer Gemeinden Lengnau und Endingen ein.

Kaum ist Roy Oppenheim vor der Synagoge im aargauischen Lengnau angekommen, legt er los. Mit Witz durchschreitet der 75-jährige Publizist in Siebenmeilen-Stiefeln die Geschichte des Schweizer Judentums, landet schnell im Jahr 1678. Nach dem Dreissigjährigen Krieg fragte man sich auch in der Schweiz: «Wer ist schuld am Krieg?» Die einfache Antwort: die Juden. Die Tagsatzung dekretierte eine judenfreie Schweiz. Der Landvogt von Baden besann sich noch auf einen Kompromiss: Zumindest in Lengnau und Endingen sollten sich Juden ansiedeln dürfen.

Begnadeter Erzähler.Oppenheim zeigt auf Stelen in der Landschaft, welche die Geschichte trockener als seine eigene Erzählung darstellen. «Die Tafeln haben wir 2009 angebracht, als wir das Projekt ‹jüdischer Kulturweg› verwirklichten.» Oppenheim gibt sich bescheiden als Mitinitiator des Kulturwegs. Aber es ist spürbar: Er ist dessen Seele, ein Geschichtsvermittler par exellence.

Jetzt steht er vor einem Haus mit Doppeltüre: Da der christliche Besitzer, dort die andere von einer jüdischen Familie bewohnte Haushälfte. «Das ist das Schöne. Die Tagsatzung stellte nur eine Regel auf: Juden und Christen sollten nicht unter dem selben Dach wohnen.» Die Surbtaler wussten sich zu helfen, bauten Häuser mit zwei Eingängen, eine Hälfte mieteten die Juden, denen jeder Landbesitz verboten war. Für Oppenheim ist das ein Lehrstück der Integration.

«Das Spannende: Bei so einem Rundgang geht es nie nur um Geschichte»,sagt der Geschichtserklärer. Das Thema streife unvermeidlich Fragen derGegenwart: Judenhass, Integration von Muslimen, Shoa, Nahost-Konflikt. Aber Oppenheim zügelt seinen Erzählfluss und kramt aus dem Jacket den massiven Synagogenschlüssel heraus, bietet eine Kippa an und sagt: «Man muss sie nicht aufsetzen, aber es tut absolut nicht weh.»

Ein riesiger Raum öffnet sich. Die Synagoge in Lengnau wurde 1847 eingeweiht. Sie zeigt: Damals scheint das Landjudentum bereits zu etwas Wohlstand gekommen zu sein. Das trifft aber nicht auf die Familie Guggenheim zu, von der Oppenheim nun erzählt. Simon Meyer Guggenheim wanderte im selben Jahr mausarm aus Lengnau in die USAaus. Seine Familie brachte es in nur drei Generationen zu riesigem Reichtum. Oppenheim hat auch einmal die berühmte Nachfahrerin Peggy Guggenheim in Venedig besucht und viel publiziert zu dieser helvetisch-jüdischen Saga «Vom Tellerwäscher zum Milliardär».

Faszinierende Enge. Der frühere Kulturchef des Schweizer Fernsehens fand mit Kunstsammlerinnen wie Peggy Guggenheim rein professionell einen Draht. Aber ihm geht es um mehr. Der Aufstieg der Guggenheims zeigt für ihn die besondere Energie, die der Aufbruch aus der Enge des Surbtals bei den Auswanderern entfesselte. Bei ihm ist es umgekehrt: Er war fasziniert von der Enge, zog in den 1970er-Jahren nach Lengnau. Seither will er diesen Mikrokosmos jüdisch-christlichen Lebens, in dem nur noch wenige Juden leben, bekannt machen. Er ist stolz auf die Amerikaner und Israeli, über Schulklassen und Studentengruppen, die den jüdischen Kulturweg ablaufen: «Ohne Werbung kommen jährlich über 15 000 Individualreisende und wir führen über 300 Gruppen.»

Nun schnell ins Auto zum jüdischen Friedhof der beiden Gemeinden Lengnau und Endingen. Melancholisch stehen die moosgepolsterten Grabsteine auf dem Gottesacker. 1750 wurde er eröffnet. «Ein kleines Wunder, denn die Juden durften kein Land besitzen.» Zuvor mussten sie ihre Toten mit dem Leiterwagen zum Rhein ziehen. Dort gab es eine Insel, Niemandsland, dasden Juden als Grabstätte diente. «Auch die Verwandten von Ruth Dreifuss lagen da», erzählt Oppenheim. Die ehemalige Bundesrätin hat die alten Gräber ihrer Vorfahren im Februar besucht. Oppenheim hat auch bei ihr das Kopfkino mit dem Historienfilm in Gang gesetzt. Nun lädt er die reformiert.»-Leserinnen und -Le­ser zu einer spannenden Reise in die Schweizer Geschichte ein.

 

 

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