In unserer Weihnachtsgeschichte schreibt die Lyrikerin Nora Gomringer aus der Perspektive einer Frau, die Weihnachten im Spital verbringt. Haben Sie in der Geschichte Parallelen zu Ihrem Alltag als Spitalseelsorgerin gefunden?
Margarete Garlichs: Die Geschichte zeigt sehr eindrücklich, wie stark der Körper bei einem Spitalaufenthalt in den Vordergrund tritt. Wir sind es ja gewohnt, dass er funktioniert. Doch plötzlich dreht sich alles um das nicht mehr funktionierende Organ oder den Schmerz. Die Abhängigkeit von Schmerzmitteln, die Angst, die Kontrolle über den Körper zu verlieren, das beschäftigt Patienten sehr. Unabhängig von Feiertagen wie Weihnachten.
Wie erleben Sie die Weihnachtszeit im Zürcher Unispital?
Ich arbeite an Weihnachten sehr gerne, es ist eine ganz besondere Zeit. Interessant ist: Die Adventszeit und die Weihnachtstage unterscheiden sich stark, was die Atmosphäre und die Gemütslage der Patientinnen und Patienten angeht.
Inwiefern?
In der Adventszeit werden wir deutlich häufiger gerufen als sonst. Die Gespräche sind oft länger und tiefgründiger. Der Advent ist für Menschen im Spital eine sehr schwierige Zeit, in der sie stark mit ihrer Situation hadern. Eigentlich sollte die Welt dann in Ordnung sein, man sollte Plätzchen backen, den Adventskalender bestücken. Advent ist Familienzeit, Sehnsuchtszeit. Aber für die Patienten und Patientinnen ist die Welt gar nicht in Ordnung. Sie verpassen diese Zeit mit der Familie oder den Menschen, die ihnen wichtig sind.
Worüber sprechen sie mit Ihnen?
Über ihre Enttäuschung, das Gefühl, die Familie in dieser Zeit im Stich zu lassen. Aber auch über praktische Fragen. Zum Beispiel, wie man noch Geschenke organisieren kann. Wir haben nun mal eine Heile-Welt-Vorstellung von Weihnachten. Obwohl die Weihnachtsgeschichte selbst ja alles andere als eine Idylle beschreibt.
Eine beschwerliche Reise, keine Herberge, eine Geburt im Stall.
Genau. Auf diese Brüchigkeit, diesen Widerspruch mache ich beim Weihnachtsgottesdienst in der Spitalkirche häufig aufmerksam. Und dennoch: So widrig die Umstände auch waren, die Weihnachtsgeschichte eröffnet die Chance, bestimmte Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. Wie Liebe und Frieden auf Erden – auch heute. Um ein Zeichen zu setzen, bringe ich gerne das Friedenslicht von Bethlehem in den Gottesdienst. Trotz der schwierigen Ausgangslage beschreibt die Weihnachtsgeschichte auch heilige Momente, eine besondere Atmosphäre. Auch die Weihnachtstage im Spital sind dann speziell.
Warum?
Der Betrieb ist reduziert und viele Patienten dürfen kurzzeitig nach Hause. Diejenigen, welche bleiben, wünschen selbst Fremden «Frohe Weihnachten». Alle sind auf positive Weise empfindsamer, wollen auch spirituell satt werden. Und wenn sich die Patienten und Patientinnen damit abgefunden haben, dass sie die Feiertage im Spital verbringen, sind sie oftmals überrascht, wie gut sie doch mit ihren Angehörigen feiern konnten. Wie gut der Plan B funktioniert.
Sie arbeiten auch in der Klinik für Geburtshilfe und in der Neonatologie, wo Frühchen teils um ihr Leben kämpfen. Sind das besondere Orte zu Weihnachten?
Auf der Neonatologie ist der Zustand der Kinder sehr unterschiedlich. Für die Eltern steht aber fest, dass sie Weihnachten beim Kind verbringen wollen. Im Wochenbett überwiegt dann die pure Freude. Wenn sich der gebrechliche Schwiegervater über das Neugeborene beugt, erinnert das schon mal an den Besuch der Heiligen drei Könige. In der Vorweihnachtszeit spielt auch eine Harfenistin vom Opernhaus auf der Station Weihnachtslieder. Es hat etwas sehr Berührendes, wenn die Frauen mit ihren Neugeborenen zu «Ihr Kinderlein kommet» im Gang stehen. Eltern erleben auf der Geburtsstation praktisch ihre eigene Weihnachtsgeschichte. Einmal bekam ich eine Geburtsanzeige, auf der stand: «3250 Gramm verändern die Welt». Das stimmt tatsächlich.
Für die Eltern auf jeden Fall.
Ja, aber es stimmt nicht nur für die Eltern. Denken Sie nur an die Weihnachtsgeschichte. Jesus hat die Welt für die Menschheit verändert. Durch diese Geburtsanzeige ist mir die Weihnachtsgeschichte noch einmal näher gerückt.