Wer den Pfarrer und Autor Heinrich Rusterholz befragt, bekommt von ihm keine Antworten. Er bekommt Geschichten. Vom Berliner Juden Cioma Schönhaus zum Beispiel, der Pässe fälschte, um vielen Juden die Ausreise aus Nazideutschland zu ermöglichen, bevor er selbst flüchten musste und mit dem Velo von Berlin bis nach Stein am Rhein radelte. Hier fand er vorübergehend Unterschlupf beim Hilfswerk für die Bekennende Kirche in Deutschland.
Geprägt hatten das Werk der pietistische Blau-Kreuz-Pfarrer Paul Vogt und der aus Deutschland ausgewiesene und in Basel lehrende Theologe Karl Barth. Die Bekennende Kirche war 1934 in Opposition zur offiziellen, nazitreuen Kirchenleitung gegründet worden.
Der Konfirmand als Postbote. Oder die Geschichte von einem Konfirmanden Vogts, der vom Pfarrer nach dem Unterricht den Auftrag bekam, Briefe auszutragen. Es waren Nachrichten aus Deutschland an Juden, die Vogt in Seebach bei Familien untergebracht hatte. Der Flüchtlingspfarrer selbst fürchtete, Fröntler würden ihm nachschleichen, wenn er die wertvolle Post selbst verteile.
Der empathische Pietist. Heinrich Rusterholz war von 1987 bis 1998 Präsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes. In seine Amtszeit fiel die Aufarbeitung der Rolle der Schweiz – und des Kirchenbunds – im Zweiten Weltkrieg. Und so hat ihn dieser Flüchtlingspfarrer aus Seebach nicht mehr losgelassen. Er schildert Paul Vogt als «empathischen Pietisten», der Prinzipientreue und Pragmatismus verband.
Mit «… als ob unseres Nachbars Haus nicht in Flammen stünde» legt Rusterholz ein Standardwerk über Vogt, Karl Barth und das Schweizerische Hilfswerk für die Bekennende Kirche in Deutschland zwischen 1937 und 1947 vor. Der Band ist im TVZ erschienen (720 Seiten kosten 72 Franken) und basiert auf einer Unmenge Archivmaterial. Dank der klar aufgebauten Struktur taugt er als Nachschlagewerk und zeichnet ein differenziertes Bild der Flüchtlingshilfe der reformierten Kirchen, die nach dem Krieg im neu gegründeten Heks aufging.
Christen sind nicht neutral. Kraft entfaltete die Unterstützung der Bekennenden Kirche mit dem Memorandum, das neben Vogt und Barth die Pfarrer vom Grossmünster, von Seebach und Wiedikon erstunterzeichneten. Sie nennen den Kirchenkampf zwischen Bekennender Kirche und nazitreuer Führung einen «Vernichtungskrieg» gegen die Kirche: «An die Stelle des Glaubens an Jesus Christus soll die Selbstanbetung des deutschen Menschen treten.» In dieser Not dürften die «Amtsbrüder» nicht so tun, als ob sie «Angelegenheiten eines fremden Landes» nichts angingen: «Der christliche Glaube kennt keine Landesgrenzen und keine Neutralitätserklärungen.» 700 Schweizer Pfarrer setzten ihre Unterschrift unter das Memorandum.
Rusterholz zitiert ausführlich aus Originaldokumenten und schildert so, wie der Aufruf diskutiert und kritisiert wurde. Für ihn zeigt das Memorandum beispielhaft, wie das Zusammenspiel zwischen Basis und Institution funktioniert. «Ein solcher Aufruf kann nicht von oben verordnet werden, und wahrscheinlich hätten ihn die Kirchenleitungen zerredet, bevor er an die Pfarrer verschickt werden konnte», sagt Rusterholz. Dennoch habe es später die Institution gebraucht, um dem von Vogt gegründeten Hilfswerk eine stabile Struktur zu geben.
Der Schatten der Mission. Ein weiteres historisches Lehrstück, dem Rusterholz erfreulich viel Raum gibt, ist der Weihnachtsbrief von 1942. Diesmal geht es um das Verhältnis zwischen Juden und Christen. Die Solidaritätskundgebung gegenüber den Schweizer Juden und das Bekenntnis zur praktischen Zusammenarbeit wurden nicht ohne den problematischen Verweis veröffentlicht, «erschreckt und betrübt» zu sein, «dass das Judenvolk Jesus nicht als den im Alten Testament angekündigten Messias erkennt und als seinen Erlöser annimmt».
Auch hier schildert Rusterholz Entstehung und Rezeption des kontrovers aufgenommenen Briefs detailliert. Im Gespräch hält er fest: «Paul Vogt mochte seine Meinung beharrlich und überzeugend vertreten haben, aber er war dennoch lernfähig.» So achtete er darauf, dass jüdische Kinder, die in christlichen Familien aufgenommen wurden, nicht missioniert und von jüdischen Wanderlehrern unterrichtet wurden.