Als auf der grossen Leinwand das Bild erscheint, auf dem Ibu Asmania ihrem Sohn das Halstuch der Schuluniform zuknüpft, gerät die Stimme der 42-jährigen Indonesierin ins Stocken und sie senkt einen Moment das Mikrofon. Dann fährt sie fort: «Das ist mein Sohn. Ich hoffe, dass das Leben meiner Kinder besser wird als unseres.» Sie wischt sich eine Träne aus den Augen. Im oberen Saal des Volkshauses Zürich herrscht betretene Stille. Auch im Publikum zücken einige ein Taschentuch. Die kleine Frau auf der grossen Bühne vermittelt, was Statistiken nicht können: den seelischen Schmerz, den der Klimawandel in immer mehr Regionen auslöst.
Zwei Tage vor der Hauptverhandlung am Kantonsgericht Zug hat das Hilfswerk der Evangelisch-reformierten Kirchen Schweiz (Heks) zu einer Podiumsveranstaltung eingeladen. Das Publikum begegnete so zwei der vier Bewohner der indonesischen Insel Pari, die eine Klage gegen den Schweizer Zementkonzern Holcim eingereicht haben: Ibu Asmania, Besitzerin eines Gästehauses und eines Ladens sowie Mutter dreier Kinder, und dem Mechaniker und Strandmanager Arif Pujianto, Vater eines erwachsenen Sohnes.
Steigender Meeresspiegel raubt Existenz
Während auf der Leinwand Fotos von ihrer 42 Hektaren grossen Insel vor Jakarta gezeigt werden, erzählen die beiden, wie der Klimawandel zunehmend ihre Existenz bedroht: Seegras und Mangroven verschwinden, der Fischfang wird immer kleiner, Flutwellen dringen in ihre Häuser und versalzen das Trinkwasser, die Touristenbesuche nehmen ab, ihr Einkommen schwindet. Der Meeresspiegel ist in den letzten Jahren um 20 Zentimeter gestiegen, das Wasser wärmer geworden.
Asmania und Pujianto verlangen, dass einer der 100 grössten CO₂-Emittenten in der Welt in die Verantwortung genommen wird: Holcim ist ein weltweit führender Hersteller von Zement. Bei der Produktion werden riesige Mengen an CO₂ freigesetzt. Laut einer Studie der Organisation «Call for Climate Justice», die vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), der indonesischen Umweltorganisation Walhi und Heks unterstützt wird, hat Holcim zwischen 1950 und 2021 über sieben Milliarden Tonnen CO₂ freigesetzt und damit den Klimawandel massgeblich mitverursacht.
Forderungen an Holcim
Konkret fordern die zwei Frauen und zwei Männer von Pari eine anteilsmässige Wiedergutmachung ihrer klimabedingten Schäden, eine Reduktion der Emissionen um 43 Prozent im Vergleich zu 2019 bis 2030 und um 69 Prozent bis 2040 sowie einen Beitrag zu den Anpassungsmassnahmen auf der Insel, etwa beim Anbau von Mangroven oder dem Erhöhen der Häuser, damit diese bei Flutwellen nicht mehr im Wasser stehen.
Am 3. September nun findet im Kantonsgericht Zug eine erste Verhandlung statt. Dabei soll das Gericht entscheiden, ob es die Klage zulässt und den vier Indonesiern Rechtsschutz gewährt. Erstmals muss sich damit ein Schweizer Konzern rechtlich für seine Rolle beim Klimawandel verantworten.
Gerechtigkeit auch beim Klima
Unterstützt werden die Klägerinnen und Kläger vom Heks. Das Hilfswerk setzt sich mit Projekten im In- und Ausland für Gerechtigkeit in der Welt ein. Es unterstützt Menschen, die besonders verletzlich sind, darunter Gemeinschaften, die am stärksten unter den Folgen des Klimawandels leiden, obwohl sie selbst kaum dazu beigetragen haben. Die Menschen von Pari mit einer Kampagne zu unterstützen steht exemplarisch dafür: Das Hilfswerk will Verantwortung einfordern, strukturelle Ungerechtigkeiten sichtbar machen und dazu beitragen, dass die Lasten der Klimakrise nicht auf den Schwächsten abgeladen werden.
Die Klage gegen Holcim reiht sich in einen globalen Trend ein. In den letzten zehn Jahren hat die Anzahl Klimaprozesse stark zugenommen. Zunächst vor allem gegen Staaten gerichtet, zwingen sie Regierungen zu ambitionierteren Klimazielen. Ein prominentes Beispiel ist das niederländische «Urgenda»-Urteil, in dem die Regierung verpflichtet wurde, ihre Emissionen deutlich zu senken. Auch die Schweizer Klimaseniorinnen haben 2024 vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein historisches Urteil erwirkt: Die Schweiz verletzt mit ungenügendem Klimaschutz das Recht auf Gesundheit und muss nun ein nationales CO₂-Budget im Einklang mit dem 1,5-Grad-Ziel vorlegen.
Immer mehr Unternehmen im Visier
Immer häufiger stehen auch Unternehmen im Fokus. In Deutschland klagte der peruanische Bauer Saúl Luciano Lliuya gegen den Energiekonzern RWE, weil das Schmelzen der Gletscher in den Anden seine Heimat bedroht. Obwohl das Verfahren jüngst abgewiesen wurde, stellte das Gericht klar, dass Unternehmen grundsätzlich haftbar sein könnten, selbst für Schäden Tausende Kilometer entfernt.
In Frankreich und Belgien muss sich TotalEnergies wegen seiner Klimapolitik verantworten, in Neuseeland der Milchkonzern Fonterra. Und gegen Shell läuft seit Jahren ein Verfahren, in dem Kläger fordern, dass der Konzern seine Emissionen bis 2030 fast halbiert. Immer mehr Unternehmen geraten ins Visier, wegen ihrer Emissionen, wegen Greenwashing oder fehlender Anpassungsmassnahmen.
Mit Holcim steht nun auch in der Schweiz erstmals ein Unternehmen vor Gericht, der gleich auf allen drei Ebenen zur Verantwortung gezogen werden soll: für Emissionssenkungen, für Anpassungsmassnahmen und für Schadensersatz. Die Beweisführung ist anspruchsvoll, denn Holcim ist auf Pari nie direkt aktiv gewesen. Der Konzern weist die Verantwortung zurück und betont, die Frage, wer wie viel CO₂ ausstossen dürfe, sei keine Sache für Zivilgerichte, sondern gehöre in die Politik. Doch Klimawissenschaft und Attributionsforschung (siehe Kasten) ermöglichen es inzwischen, Emissionen bestimmten Schäden zuzuordnen. Und darauf setzt die Klage in Zug.
Klimaschutz wird rechtliche Pflicht
Die Klimaklagen werden inzwischen auch von internationalen Gerichten rechtlich gestärkt: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gab 2024 den Schweizer Klimaseniorinnen recht und erklärte ungenügenden Klimaschutz zur Verletzung von Grundrechten. Der Interamerikanische Gerichtshof proklamierte 2025 ein Recht auf ein gesundes Klima. Und der Internationale Gerichtshof in Den Haag stellte diesen Juli fest, dass Staaten völkerrechtlich verpflichtet sind, das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten. Damit wird klar: Klimaschutz ist keine politische Option mehr, sondern eine rechtliche Pflicht. Das erhöht den Druck auf nationale Gerichte, auch Unternehmen in die Verantwortung zu nehmen. Für das Klima spielt es keine Rolle, wo CO₂ freigesetzt wird. Die Folgen sind global, sie betreffen Menschen in Peru, in Indonesien, aber auch in der Schweiz.
Der Prozess in Zug wird deshalb weit über die Landesgrenzen hinaus beobachtet. Ein Urteil zugunsten der vier Kläger aus Pari könnte eine Welle ähnlicher Verfahren auslösen. Es würde unterstreichen: Der Klimawandel ist kein rechtsfreier Raum mehr. Menschen, die unter seinen Folgen leiden, haben Anspruch auf Gerechtigkeit. Genau darum geht es Ibu Asmania, wenn sie ihrem Sohn das Halstuch richtet und hofft, dass ihm widerfährt, wofür sie kämpft.