Wunden pflegen im Churer Drogenelend

Sucht

Im Stadtgarten trifft sich eine der grössten offenen Drogenszenen der Schweiz. Sina Baechler pflegt ehrenamtlich Suchtkranke – unterstützt von der reformierten Kirche. 

Mittwoch, 13.30 Uhr, im Stadtgarten Chur. Ein paar Menschen versammeln sich in einer Ecke des Parks um einen Tisch mit Bänken. Sie rauchen, trinken Bier und konsumieren Crack. Andere stehen vor einem Grill, der an diesem Mittag aufgestellt ist, um eine gebratene Wurst zu bekommen. «Habt ihr noch was oder bin ich zu spät?», fragt eine junge Frau. Sie hat die Kapuze ihres Pullovers tief ins Gesicht gezogen, ihre Augen wirken benebelt. Sie legt ihre Crackpfeifen auf den Tisch und greift mit ihrer Hand sogleich nach dem Brot, das für die Menschen im Park bereitgestellt wurde.

Regelmässiger Einsatz

Neben dem Grill liegt Kleidung am Boden. Eine junge Frau durchsucht den Textilhaufen nach etwas für sie Brauchbarem. In dem Moment betritt Sina Baechler den Stadtgarten. In der Hand trägt sie eine Tasche mit Verbandsmaterial. Die ausgebildete Pflegefachfrau kommt jeden zweiten Mittwoch im Monat in den Park, um die Wunden der Drogenabhängigen zu versorgen. Das Angebot ist gratis, denn Sina Baechler bietet ihre Dienste ehrenamtlich an. «Es ist meine Einstellung zu helfen», antwortet sie auf die Frage nach ihrer Motivation. 

Crack ist die Droge der Zeit 

Seit Jahren gilt der Stadtgarten als Zentrum der offenen Drogenszene in Chur. Insgesamt 150 Menschen zählen dazu. Vor allem Crack wird konsumiert. Die Droge, bei der kleine Steine aus Kokainsalz und vermischtem Natrium geraucht werden, macht extrem schnell abhängig und lässt die Konsumenten stark verwahrlosen. «Dein Leben besteht nur noch daraus, dir den nächsten Zug zu organisieren», erzählt Urs, 63, der die Drogenszene aus eigner Erfahrung gut kennt. Nach etwa 15 Minuten nimmt der Rausch ab und eine neuer Zug aus der Pfeife muss her. Um die 20 Franken kostet der.

Vertrautes Gesicht 

«Jeder hier hat seine eigene Geschichte. Irgendetwas, womit er in seinem Leben nicht klargekommen ist und dann in die Sucht abgerutscht ist», weiss Urs. Auch Werner Erb ist an diesem Mittwoch da. Der hochgewachsene Mann mit dem schlohweissen langen Zopf hat ein grosses Herz für die Süchtigen. Erb kennt den Alltag im Stadtpark gut: «Einige hier stehen mit einem Bein im Grab. So krank sind sie.» 

Gemeinsam essen stärkt

Der ausgebildete Sozialpädagoge weiss, wovon er spricht. Seit Jahren kümmert er sich um die Menschen, um die andere lieber einen Bogen machen. Zunächst als Mitarbeiter der Überlebenshilfe Graubünden und inzwischen als Pensionierter. Er besorgt Grillgut: «Die Leute hier essen tagelang nichts. Sie vergessen es einfach.» Erb hat sich beim Kanton immer wieder für einen Konsumraum starkgemacht. 

Kooperationen gesucht 

Die Kontakt- und Anlaufstelle sowie der dreijähre Pilot Konsumraum sind unterdessen genehmigt, finanziert und werden im März kommenden Jahres eröffnet. Bis dahin behandelt Pflegefachfrau Sina Baechler Menschen aus dem Stadtpark im Gartenhäuschen der Stadtgärtnerei. Unterstützt wird sie von Corina Pfiffner-Frischknecht. Die Präsidentin des Evangelischen Hilfsvereins Chur war es auch, die gemeinsam mit der reformierten Kirchgemeinde Chur nach einem Meeting mit Stadt und Bistum unter der Frage, inwiefern die Kirche helfen könnte, das Elend im Stadtgarten etwas zu lindern, auf Werner Erb und die Überlebenshilfe Graubünden zugegangen ist. Das Bedürfnis nach der Wundpflege ergab sich aus diesem Gespräch heraus.

Leserbrief in der Zeitung

Obwohl viele Institutionen die Idee von Hilfsverein und Kirchgemeinde begrüssten, sei es schwer gewesen, medizinisches Fachpersonal zu finden, erinnert sich Corina Pfiffner. Als Ultima Ratio haben sie und der Präsident der Kirchgemeinde Chur, Reto Küng, einen Leserbrief in der «Südostschweiz» platziert. Mit Erfolg, denn Sina Baechler meldete sich. An einem gewöhnlichen Nachmittag wie heute kommen zwei oder drei Menschen, um sich medizinisch versorgen zu lassen. Corina Pfiffner findet, «es dürften durchaus noch mehr sein». Doch der Drogenkonsum verschiebt die Prioritäten: Vor der Wundversorgung steht die Beschaffung der Droge. 

Student will helfen

«Darf ich eine Wurst haben?», fragt ein junger Mann höflich. «Klar», erwidert Samuel Halter, der hinter dem Grill steht. Seit zwei Jahren engagiert sich der Student der katholischen Theologie ehrenamtlich im Stadtpark und grilliert. Mit ein paar Studienkollegen ist er daran, weitere Hilfe für die Menschen im Park zu organisieren. «Wir sehen Handlungsbedarf und sind dabei, ein Projekt aufzugleisen, das offiziell von der katholischen Kirche unterstützt wird», sagt er.