Das Guggisberglied hat alles, was es zu einem unvergänglichen Hit braucht: Mundartlyrik, die auf poetische Weise ein Liebesdrama mehr andeutet als fadengerade erzählt, dazu eine prägnante, schlichte und todtraurige Melodie. Es ist eines der ganz wenigen alten Schweizer Volkslieder in Moll. Erstmals schriftlich erwähnt wird es im Jahr 1741 in einer Einladung zu einem traditionellen Käsemahl, die der Landvogt von Wimmis dem Schultheissen von Thun zukommen liess.
Dieses alte und berühmte Volkslied existierte somit bereits zu Lebzeiten von Johann Sebastian Bach (1685–1750). Falls der epochale Kirchenmusiker seinerzeit also eine Reise ins Bernerland unternommen hätte, wäre ihm das Lied unter Umständen zu Ohren gekommen – wer weiss, zu welchen polyphonen Höhen er die Melodie in einer Bearbeitung für Orgel geführt hätte.
Nur war Bach nie in der Schweiz – anders als der Pianovirtuose und Komponist Franz Liszt (1811–1886). Er hatte in gut romantischer Manier stets ein offenes Ohr für Volksmusik und bearbeitete auch Schweizer Melodien für Klavier, darunter das Guggisberglied (ab Min. 1:50). Am schönsten ist es aber nach wie vor in der ursprünglichen Version, volkstümlich schlicht und hoch emotional.
Sterben vor Kummer
Der Text beginnt mit den berühmten Worten «’s ich äben e Mönsch uf Ärde» und handelt in zwölf Strophen von zwei Liebenden: Vreneli vom Guggisberg und Simes (Simons) Hansjoggeli ennet dem Berg. Die beiden haben, wie der Text berichtet, eine innige Liebesbeziehung, die jedoch nicht sein darf. Nun weilt der Geliebte in der Ferne, Vreneli bleibt im Dorf, verzehrt sich nach ihrem Hansjoggeli und stirbt schliesslich vor Kummer.
In den Strophen kommen kryptische Motive vor, die als Codes dienen und dem Text poetische Tiefe verleihen. Die Rede ist etwa von Muskat und Nelken, die «in meines Bühles Garten» wachsen. Beiden Gewürzen wurden in alten Zeiten aphrodisierende Wirkung zugeschrieben, sie waren Bestandteil eines Liebestranks; dadurch bekommt das Lied eine erotische Komponente. Auch eine geheimnisvolle Mühle kommt zur Sprache, «die nichts als Liebe mahlt»: ein Symbol der Liebe, die sich dreht und dreht, also niemals rostet.
Vertraut klingt in den Ohren des Märchenfreundes das Wort «Simelibärg», das in jeder Strophe an zwei Stellen als beinahe magisches Kennwort gesungen wird. Im Lied hat der Simelibärg aber nichts mit dem gleichnamigen Märchen der Gebrüder Grimm zu tun. Vielmehr bezieht sich dieser Name auf das Guggershorn, das zwischen den Herkunftshöfen der Liebenden aufragt – und dadurch zu einem einenden Ort wird, einem geografischen Bezugspunkt ihrer Liebe.
Eine wahre Begebenheit?
Die Geschichte von Vreneli und Hansjoggeli soll, davon ist man in der Gemeinde Guggisberg im Berner Schwarzenburgerland überzeugt, einen wahren Hintergrund haben. Erzählt wird die Geschichte so: Verena vom – noch heute existierenden – Lindenhof und Hansjakob vom Hof jenseits des Berges sind unsterblich ineinander verliebt. Allerdings taucht ein begüterter Mitbewerber auf, der künftige Erbe eines stattlichen Hofes. Hansjakob erschlägt den Nebenbuhler im Streit, flieht und verdingt sich in der Fremde – vermutlich in Preussen – als Söldner.
Verena bleibt ihm treu, wird krank vor Liebe und stirbt. Als Hansjakob nach zwei Jahren aus dem Kriegsdienst zurückkehrt, hört er nur noch die Kunde vom Hinschied seiner Geliebten. Wer danach die gefühlvolle Ballade dichtete und in Töne setze, ist nicht bekannt. Bekannt ist hingegen, dass es in Guggisberg tatsächlich einen «Simes Hansjoggeli» gab. Ein Mann dieses Namens ist auf einer Volkszählungsliste von 1715 vermerkt: «Jakob Bingelli – Simes Hansjaggi».
Verfolgt, geflüchtet
So weit, so gut. Neuerdings macht jedoch zunehmend auch noch eine andere Version zum Hintergrund des Liedes die Runde. Gerade jetzt, im Täuferjahr 2025, ist vermehrt die Rede davon. Ein Täuferlied soll es nämlich ursprünglich gewesen sein, das Guggisberglied. Ein Lied jener Glaubensgemeinschaft also, deren Mitglieder den Kriegsdienst verweigerten und deshalb von der Regierung im alten Bern beargwöhnt, drangsaliert und in mehreren Wellen während mindestens zwei Jahrhunderten verfolgt wurden. Prediger und andere führende Köpfe flüchteten oder kamen in Gefangenschaft, wurden deportiert, als Galeerensträflinge verkauft oder hingerichtet. Die zurückgebliebenen Angehörigen verharrten zu Hause oft jahrelang in der Hoffnung, ihre Lieben eines Tages vielleicht doch wieder zu sehen.
Ursprung der These, dass das Guggisberglied mit den Täufern in Zusammenhang stehen könnte, ist ein Beitrag des pensionierten und mittlerweile verstorbenen Pfarrers Paul Hostettler im Band «Mennonitica Helvetica» des Jahres 2000. In Zuge einer gründlichen genealogischen Nachforschung kommt der Autor zum Schluss, dass es sich bei dem Liebespaar Hansjoggeli und Vreneli um junge Täufer gehandelt haben müsse, denn gerade in täuferischen Familien seien die Namen Verena und Jaggi einstmals besonders beliebt gewesen. Die tragische Liebesgeschichte einer Verena und eines Jaggi passe gut in die Zeit zwischen 1670 und 1692. In dieser Zeitspanne seien in Guggisberg zwei Höhepunkte der Täuferverfolgung aufgeflammt.
Losungswort für Schmerz und Trauer
Das Lied handle also womöglich von einem wegen der Glaubensverfolgung auseinandergerissenen Liebespaar, vom Aufenthalt des Bräutigams in der Fremde und dem Verbleib der Braut zu Hause, von Sehnsucht und Schmerz – und der Mühle, die das Liebeskorn des christlichen Glaubens mahle. Der wehmütige Refrain «Simelibärg» habe «nichts von einem obenausschwingenden und triumphierenden Guggershorn an sich». Vielmehr sei es ein Losungswort für Schmerz und Trauer, aber auch für den Durchhaltewillen, wie er von der Familie Binggeli im Simons Haus zu Wyden unterhalb der sanften Anhöhe Simelibärg «beispielhaft vorgelebt worden ist».
